Griechische Polizisten vor Grenzzaun.
Die griechische Polizei bewacht die Grenze zur Türkei.
REUTERS

Der Trend ist klar: In Sachen Asyl geht es in der EU seit längerem nur noch um Verschärfungen, sei es an den Außengrenzen oder in den Asylverfahren. Asylwerber und Asylwerberinnen möchten viele am liebsten in Drittstaaten abschieben, Anrainerstaaten werden bezahlt, damit sie die Wege nach Europa blockieren.

In seinem gemeinsam mit Frank Wolff verfassten Buch Hinter Mauern: Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft zieht der deutsche Politikwissenschafter Volker M. Heins den Schluss, diese Abschottungspolitik verändere auch die Gesellschaften im Inneren der EU, und zwar nicht zum Guten. Was er damit genau meint, erklärt er im STANDARD-Interview.

STANDARD: Gemeinsam mit Frank Wolff schreiben Sie in Ihrem Buch Hinter Mauern, dass strenge Abschottungspolitik an den Grenzen die Gesellschaft im Inneren verändert. Inwiefern?

Heins: Zunächst ist es so, dass eine Gesellschaft moralisch verroht, die es normal findet, dass "irreguläre" Migranten allein aufgrund ihrer Herkunft an den Grenzen misshandelt und ihrer Rechte beraubt werden. Denken Sie an den Satz von Sebastian Kurz, der 2016 noch als Außenminister meinte, es werde "ohne hässliche Bilder" an den Grenzen nicht gehen. Ähnliches hört man auch in Deutschland quer durch die Parteien. Was bedeuten solche Sätze konkret? Dass sich die Bevölkerung bitte schön an Bilder gewöhnen soll, in denen unbewaffnete Zivilisten in unserem Namen attackiert und verprügelt werden oder auf manövrierunfähigen Booten auf dem Mittelmeer zurückgelassen werden.

Zweitens nimmt der Rassismus in den Gesellschaften zu. Wenn es offiziell heißt, wir wollen zum Beispiel keine jungen Männer aus Syrien oder Afghanistan, dann hat das Folgen für jene, die bereits bei uns sind. Drittens kommt es zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit im Allgemeinen, vor allem bei den Staaten mit den EU-Außengrenzen. Staaten wie Ungarn oder Kroatien glauben, sich Mindeststandards der Rechtsstaatlichkeit nicht mehr leisten zu können, um dem Ziel der Abschottung und Abschreckung gerecht zu werden.

STANDARD: Wie kommen Sie auf diesen Zusammenhang? Es könnte ja auch ganz andere Gründe dafür geben.

Heins: Richtig, wir sagen auch nicht, dass Abschottungspolitik eine monokausale Erklärung für das alles ist. Das Problem ist das umfassende Projekt der autoritären Neuordnung der Gesellschaft, Rassismus und Abschottung sind Aspekte dieses Projekts. Parteien wie die FPÖ oder die AfD wollen genau das erreichen, eine andere Gesellschaft.

Aber auch anderswo sehen wir diese Tendenz. Gegen das britische Projekt der Abschiebung von Asylwerbern nach Ruanda gab es Einwände des Obersten Gerichts auf der Basis der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Reaktion einiger Tories: Na, dann müssen wir eben raus aus der Konvention. Ähnliche Forderungen nach einer Justizreform gab es in jüngster Zeit in Italien, als Gerichte sich gegen den restriktiven Migrationskurs der Regierung stellten.

STANDARD: Sie sprechen von FPÖ und AfD, doch eine harte Asyllinie fahren ja mittlerweile auch Mitte-rechts-Parteien wie die CDU/CSU oder die ÖVP.

Heins: Ja, die Rechtsparteien treiben die anderen Parteien vor sich her. Man sieht das sogar bei den Grünen in Deutschland, die das Thema Asyl und Migration schon gar nicht mehr ansprechen wollen. Die ziemlich geräuschlose Zustimmung zur Reform des EU-Asylsystems war bezeichnend. Die Grundstimmung scheint zu sein, dass es keine Alternative zu einem immer härteren Kurs gegen Migranten gibt. Als Nächstes kommt die Diskussion über eine komplette Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten.

Volker Heins: "Das Problem ist die obsessive Fixierung auf das Migrationsthema."
Daniel Schumann

STANDARD: Die EU-Kommission forciert nun auch Flüchtlingsdeals mit Anrainerstaaten wie Tunesien, Ägypten oder dem Libanon. Welche Folgen könnte das für die europäischen Gesellschaften haben?

Heins: Ich denke, das ist zu einem Großteil Aktionismus und Hilflosigkeit. Es ist völlig unklar, ob diese Deals wirken und wie nachhaltig sie sind. Dasselbe gilt für das italienische Projekt der Auslagerung von Asylverfahren nach Albanien. Dieses Projekt ist jetzt auch in Deutschland bei CDU und CSU extrem beliebt. Dabei ist völlig unklar, ob solche Projekte funktionieren, ganz zu schweigen von den enormen Kosten. Meine Befürchtung: Wir geraten in eine Abwärtsspirale immer radikalerer, aber auch immer unrealistischerer Forderungen.

Man weiß ja nicht so genau, was man sich bei all diesen umstrittenen Maßnahmen wünschen soll: Erfolg oder ein Scheitern? Ich wünsche mir oft Letzteres, möchte mir aber auch nicht ausmalen, was sich unsere politischen Eliten als Nächstes ausdenken.

STANDARD: Wie würde ein anderer Ansatz aussehen?

Heins: Weltweite freie Migration in Tarifjobs ist zum Beispiel ein Vorschlag des Instituts zur Zukunft der Arbeit in Bonn. Und natürlich gibt es Vorschläge für eine humane Reform des Asylsystems. Das Problem sehe ich aber zurzeit eher in der obsessiven Fixierung auf das Migrationsthema. Mich beeindruckt, wie es die KPÖ in Graz und Salzburg geschafft hat, mit der Wohnungsfrage sehr erfolgreich zu sein. Migration ist ein Querschnittsthema, das heißt, es liegt quer zu vielen anderen Themen, zu denen die Leute ebenfalls etwas von den Parteien hören wollen. Steigende Mieten, Arbeitskräftemangel, der Krieg in der Ukraine etwa.

STANDARD: In Sachen Grenzmanagement setzen Sie der "Ideenlosigkeit der Abschottung" ein Konzept der globalen Nachbarschaft entgegen. Das bedeutet, nicht nur der Staat, sondern auch Gemeinden, NGOs und andere zivilgesellschaftliche Akteure sollen die Grenzgestaltung mitbestimmen. Wie soll das konkret aussehen?

Heins: Der Grundgedanke ist ganz einfach: Keine Migrationspolitik wird Erfolg haben, die die Lebenspläne, Hoffnungen und Interessen von Schutzsuchenden und Migranten einfach ignoriert. Dasselbe gilt für eine Politik, die die Ängste und Erwartungen von Einheimischen etwa in der Nähe von Flüchtlingsunterkünften ignoriert. Migration ist die Mutter aller Gesellschaften, aber ob es gute Gesellschaften werden, hängt von uns allen ab.

STANDARD: Die Abschottungspolitik in Europa hat mit den großen Flucht- und Migrationsbewegungen 2015/16 mitsamt Angela Merkels "Wir schaffen das" so richtig ihren Anfang genommen. Wäre es ohne diese Ereignisse anders gekommen?

Heins: Man sieht in den USA, dass es dieses Thema auch ohne solch große Ereignisse gibt. Daher glaube ich, dass es auch in Europa ohne 2015/16 so weit gekommen wäre. Die Kehrseite ist: Zumindest in Deutschland wurden Strukturen aufgebaut, etwa im Bereich der Unterbringung von Flüchtlingen, die uns vorbereitet haben, etwa auch auf die ukrainischen Flüchtlinge.

STANDARD: Meine letzte Frage: Wir haben auf derStandard.at das meistfrequentierte Forum im deutschsprachigen Raum. Ich kann schon jetzt prognostizieren, dass dort viele User Ihrem Wunsch nach weniger Abschottung und offeneren Grenzen eher ablehnend gegenüberstehen werden. Wollen Sie denen an dieser Stelle noch etwas ausrichten?

Heins: Ich begrüße jede sachliche Diskussion, die das Problem richtig beschreibt und ehrlich nach Antworten sucht. Das finde ich in der Politik nur selten. Ich denke, dass ich das Problem realistisch angehe, während viele Vorschläge aus der Politik vollkommen unrealistisch sind. Wenn eine Partei zum Beispiel sagt, sie will eine Asylobergrenze null oder gleich die Abschaffung des gesamten Asylsystems, dann hat sie ein riesiges Problem mit dem EU-Recht und damit mit der Mitgliedschaft in der EU. Ich plädiere dafür, die Dinge zu Ende zu denken und den Leuten reinen Wein einzuschenken. (Kim Son Hoang, 16.5.2024)