Teilnehmer an der Demo in Hamburg gegen die angeblich islamfeindliche Politik in Deutschland.
Nach der islamistischen Demo in Hamburg wollen Politikerinnen und Politiker den Ruf nach einem Kalifat unter Strafe stellen.
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Um seine Botschaft zu unterstreichen, wechselte Abdullah bin Zayed, Außenminister der Vereinigten Arabischen Emirate, ins Englische: "Der Tag wird kommen", sagt er, "an dem wir wesentlich mehr radikale Extremisten und Terroristen in Europa haben werden, die die Konsequenz sein werden von mangelnder Entscheidungskraft, des Versuchs, politisch korrekt zu sein, und der Annahme, den Islam, den Mittleren und Nahen Osten besser zu verstehen, als wir es tun. Es tut mir leid, aber das ist pure Ignoranz." Das Video ist sieben Jahre alt, aufgezeichnet wurde es auf einer internationalen Konferenz in Riad, Saudi-Arabien. Es ist kein Zufall, dass die Aufnahme dieser Tage in den sozialen Medien kursiert.

Der Grund dafür liegt in den Ereignissen in Hamburg am vergangenen Samstag. Rund 1100 Anhänger, allen voran Männer, waren dort dem Aufruf von "Muslim Interaktiv" gefolgt. Offiziell richtete sich die Demonstration gegen die Medienberichterstattung über den Gazakrieg und eine angeblich islamfeindliche Politik. Doch dann ertönten "Allahu akbar"-Rufe: "Gott ist groß". Auf Plakaten wurde Deutschland als "Wertediktatur" bezeichnet und das Kalifat als "die Lösung".

In Deutschlands zweitgrößter Stadt sehnten sie sich die Errichtung eines Kalifats herbei: die Einführung eines islamischen Gottesstaates, in dem Alkohol verboten, Frauen nur bis auf Gesicht und Hände verhüllt und nur mit Erlaubnis des Ehemanns das Haus verlassen dürfen, in dem auf Diebstahl Handamputation und auf Gotteslästerung die Todesstrafe steht. Dass auf der Straße mitten in Europa offen die Abschaffung der Demokratie gefordert wird, hat nicht nur in Deutschland viele Menschen entsetzt.

Seither werden Konsequenzen diskutiert, zuletzt etwa die Möglichkeit, den Ruf nach einem Kalifatstaat unter Strafe zu stellen. Und es bleibt eine zentrale Frage: Ist Deutschland, ist Europa naiv im Umgang mit Islamisten? Zu politisch korrekt, zu ahnungslos, zu ignorant?

Innenministerin Nancy Faeser (SPD) nannte die Kundgebung "schwer erträglich" und versicherte, die Sicherheitsbehörden hätten die islamistische Szene im Visier. Ein Betätigungsverbot für Muslim Interaktiv gibt es nicht. Dabei wird die Gruppe vom Hamburger Verfassungsschutz als extremistisch eingestuft - auch aufgrund ihrer Nähe zur islamistischen Hizb ut-Tahrir (HuT), die in Deutschland schon seit 2003 verboten ist.

Hamburg gilt seit Jahrzehnten als Hotspot von Islamisten. Die jüngste Demo war nicht die erste von Muslim Interaktiv organisierte in der Hansestadt. Dass sie gestattet worden war, erklärt Hamburgs Polizeipräsident Falk Schnabel mit der Rechtsgrundlage: "Es war die einhellige Meinung aller Juristen, dass sich ein Verbot nicht rechtfertigen lässt." Das Grundgesetz gestehe Meinungsfreiheit auch Feinden der Freiheit zu.

Auch in Österreich bekannt

In Österreich hat der Verfassungsschutz die Gruppe auf dem Radar. Allerdings seien sie "realweltlich" noch nicht in Erscheinung getreten, heißt es aus der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN). Ein Protest wie jener in Hamburg zeichne sich aktuell nicht ab. In Sicherheitskreisen wird allerdings nicht ausgeschlossen, dass sich das in naher Zukunft durchaus ändern könnte. Der Staatsschutz in Wien hält fest: "Deutschsprachige Inhalte - auch mit Österreich-Bezug - finden aufgrund der gewählten Narrative und der Aufmachung der Videos auch bei österreichischen Musliminnen und Muslimen Anklang."

Das Potenzial für derlei Proteste sei prinzipiell schon da, heißt es. Zumindest für den Moment sprechen aber einige entscheidende Faktoren dagegen, dass sich in Österreich allzu bald ähnliche Szenen wie in Hamburg abspielen könnten. Zunächst einmal ist die Islamistenszene in Österreich naturgemäß kleiner als jene im zehnmal so großen Deutschland - und bis auf Wien und Graz loser verteilt. Angaben über ihre Größe gibt es nicht, selbst Schätzungen gelten als schwierig.

"Jene, die ihre Stimme gegen diese Ideologen erheben, müssen gestärkt werden."
Eren Güvercin, Autor und Mitglied der liberalen FDP in Deutschland

Zweiter Unterschied: Hierzulande gibt es weit und breit keine religiöse Leitfigur. Österreich fehlt jemand wie Raheem Boateng, der Kopf hinter Muslim Interaktiv. Auf Tiktok und Co gelingt es dem 25-jährigen Sohn einer Deutschen und eines Ghanaers, über seine Reichweite und Strahlkraft junge Muslime zu ködern und in großer Zahl auf die Straße zu bringen.

Der letzte Prediger in Österreich, der über eine vergleichbare Wirkung verfügte, war Mirsad Omerovic alias Ebu Tejma. Der Österreicher mit serbischem Hintergrund rekrutierte zur Blütezeit der Jihadistenmiliz "Islamischer Staat" von Wien aus. Im Jahr 2014 machten sich tausende junge Europäerinnen und Europäer nach Syrien auf, um sich dort der Terrororganisation anzuschließen.

Schlüsselfiguren der Szene

Darunter befanden sich hunderte aus Österreich, einige Dutzend hatten davor Ebu Tejmas Predigten gelauscht - in seiner Moschee in der Venediger Au oder auf seinem Youtube-Kanal. 2014 wurde der damals 33-Jährige inhaftiert und später unter anderem wegen Anstiftung zum Mord und terroristischer Vereinigung zu 20 Jahren Haft verurteilt. Seine Videos werden bis heute unter Jihadisten im deutschsprachigen Raum weitergereicht.

Ebu Tejmas Erfolgsrezept machte aus, dass er auf Deutsch predigte. Damit erreichte er auch junge Musliminnen und Muslime mit Migrationsgeschichte, denen die Sprache ihrer Eltern wenig bis gar nicht geläufig war. Sie benützen oftmals Jugendsprech, garniert mit Wörtern aus dem Arabischen. So gehen islamistische Größen wie Boateng bis heute vor.

Ein wesentlicher Unterschied zu Ebu Tejma ist aber dieser: Boateng ruft nicht zu Gewalt auf. Er kennt die Grenzen des Rechtsstaates - und reizt sie mitunter aus. Drohungen formuliert Boateng nicht explizit. Auf der Demo in Hamburg fielen etwa Sätze wie diese: "Deutschland, Politik und Medien - ihr alle solltet euch wohl bedacht positionieren gegenüber den Muslimen, gegenüber dem Islam und gegenüber Allah. Denn wenn die Karten neu gemischt werden und der schlafende Riese wieder erwacht, werdet ihr für das, was eure Eigenen vorausgeschickt haben, zur Rechenschaft gezogen."

Warum finden in Europa lebende und zu einem großen Teil hier geborene oder aufgewachsene Menschen überhaupt Gefallen an dem, was ihnen ein Kalifat vermeintlich verspricht? Kriminologin Bärbel Bongartz vom Zentrum für Radikalisierungsforschung und Prävention in Deutschland, liefert eine Erklärung: "Die Radikalisierung nimmt zu, dies lässt sich ideologieübergreifend beobachten." In einer radikalen Szene würden "einfache Lösungen für Probleme angeboten". Damit erreiche man "Menschen, die diskriminiert werden oder sich auch nur diskriminiert fühlen", sagt Bongartz. Und: "Diese martialischen, betont männlichen Auftritte, auch unter Einbeziehung von Waffen, sowie die Retraditionalisierung von Rollenbildern sprechen vor allem junge Männer an."

Straße und soziale Medien

Eine zusätzliche Dynamik bringen die sozialen Medien hinein. In Deutschland warnte etwa der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommerns davor, dass Islamisten immer mehr Menschen auf Tiktok erreichen. In Österreich verzeichnet die Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst ebenfalls eine Zunahme bei Konsum und Verbreitung von salafistischen Inhalten im Internet.

Salafisten stellen eine kleine Minderheit innerhalb des Islam dar. Sie berufen sich auf die Ideen eines Rechtsgelehrten aus dem Mittelalter. Diese radikale Interpretation dient oftmals als geistiger Nährboden für den bewaffneten Kampf von Jihadisten. Wenn junge Musliminnen und Muslime auf Social Media Beratung suchen, wie sie mit ihrem islamischen Glauben durch eine christlich-westlich geprägte Gesellschaft navigieren sollen, landen sie oftmals bei den Accounts der salafistischen Tiktok-Prediger. Welcher Gruppe sie sich am Ende anschließen, "ist oft Zufall". So beschreibt es Eren Güvercin, deutscher Autor mit türkischen Wurzeln. Er beobachte, dass "sich die islamistischen Milieus zunehmend verwässern".

Kalifat als Trigger

Özgür Özvatan, politischer Soziologe an der Berliner Humboldt-Universität, verweist auf die Verknüpfung beider Welten, jener offline und jener online: "Wir erleben die Verlagerung von der digitalen Mobilisierung auf die Straße. Das bringt natürlich mehr Aufmerksamkeit, die dann wieder als gern gesehene Übersetzung in den sozialen Medien verwertet wird."

Er sagt, "Extremisten profitieren von medialer Aufmerksamkeit" und setzten den Begriff "Kalifat" als Trigger strategisch ein. Er rät: "Wichtig ist, kleine Demos vor Ort zivilgesellschaftlich und politisch zu bekämpfen, aber sie nicht zu einem öffentlichkeitswirksamen, langanhaltenden Thema zu machen." Eren Güvercin hingegen mahnt eine breite Debatte ein, allen voran innerhalb der muslimischen Community selbst. Es gibt sie zwar schon, die muslimischen Stimmen, die die Idee eines Kalifats ablehnen und sich schockiert zeigen über den Aufmarsch der Fanatiker in Hamburg. Güvercin aber sagt, es brauche mehr: "Was wirklich passieren muss", sei: "Jene, die ihre Stimme gegen diese Ideologen erheben, müssen gestärkt werden."

Der Ex-Rapper Brado (links) hörte aus religiösen Gründen mit der Musik auf. Jetzt wirbt er für radikale Islamisten. Kopf von "Muslim Interaktiv" ist Raheem Boateng (rechts). In der Mitte: ein Beitrag der "Generation Islam".
Screenshots Instagram/TikTok

Die Politik habe nicht im Blick, dass Muslime, die Haltung gegen islamistische Umtriebe zeigten, schnell selbst mit Konsequenzen rechnen müssten. Er meint damit Muslime wie sich selbst. Güvercin ist Vizevorsitzender des FDP-nahen Vereins Liberale Vielfalt und Gründungsmitglied von Alhambra, ein Zusammenschluss europäischer Musliminnen und Muslime. Die großen muslimischen Verbände in Deutschland scheiterten daran, "öffentlich jungen Muslimen Orientierung zu geben und eine klare Position gegen diese extremistische Gruppierung zu beziehen".

Die Islamische Glaubensgemeinschaft (IGGÖ), die offizielle Vertretung der muslimischen Bevölkerung in Österreich, hält in einem Statement fest, dass sie die in Hamburg formulierten Forderungen "mit Besorgnis" sehe. Auf den Inhalt selbst geht sie nicht ein, das Wort "Kalifat", den Namen der Gruppe nennt sie nicht. Die IGGÖ verweist darauf, dass es "schwierig" sei, "alternative Narrative zu extremistischem Content anzubieten, die eine tatsächliche Konkurrenz zu den Kanälen aktiver Player darstellen". Sie setze auf Extremismusprävention und Aufklärung.

Hip-Hop und Autos

Die Anziehungskraft besteht laut Güvercin auch darin: Die Islamisten treten nicht altbacken auf, sondern modern, in Hip-Hop-Manier zum Beispiel. Sie stellen Statussymbole wie Autos zur Schau und beherrschen Onlinemedien. Güvercin sieht Parallelen zu rechtsextremen Bewegungen wie den Identitären. Auf sie nimmt auch der deutsche Islamexperte Guido Steinberg Bezug: Der Wiener Martin Sellner baute nicht nur die Identitären in Österreich auf, er wurde darüber hinaus zum Gesicht der Rechtsextremen im gesamten deutschsprachigen Raum. "Selbst ohne sichtbare Führungsfigur sollten die Behörden in Österreich das, was in Hamburg passiert ist, als Warnzeichen nehmen."

Steinberg wird in Wien immer wieder als Gerichtsgutachter für Jihadistenprozesse herangezogen, er kennt die heimische Islamistenszene daher. Sorge mache ihm die große Zahl an jungen Leuten, die sich dem Protest in Hamburg angeschlossen hätten. "Es würde mich sehr überraschen, wenn das Potenzial dafür in Österreich nicht ähnlich wäre." Ganz generell nämlich sei es so: "Alles, was in Deutschland passiert, passiert irgendwann auch in Österreich - und umgekehrt." (Birgit Baumann aus Berlin, Anna Giulia Fink, Jan Michael Marchart, 3.5.2024)