Erst vor wenigen Wochen oder Monaten angekommen, jetzt schon wieder auf der Flucht: Familien in Rafah.
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Im strömenden Regen machen sich zehntausende Menschen auf den Weg: teils zu Fuß, teils mit Eselkarren, teils auf Motorrädern. Wer Glück hat, kann sich einen Wagen organisieren. Alle haben ein Ziel: ihr gesamtes Hab und Gut erneut in eine Gegend zu bringen, die von Israels Armee als "humanitäre Zone" bezeichnet wird.

Eine solche hatte man den Menschen aber schon vor Monaten versprochen, als sie mit ihren Familien nach Rafah flüchteten – und von Sicherheit konnte dort zuletzt keine Rede sein. Erst in der Nacht auf Montag, nur wenige Stunden, bevor die Armee Evakuierungsflugblätter auf Rafahs Osten regnen ließ, brachten Luftschläge zehn Häuser in Rafah zum Einsturz. Laut palästinensischen Angaben kamen dabei 22 Menschen zu Tode, darunter ein Baby.

Video: Israels Armee: Bewohner sollen Ost-Rafah verlassen.
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Nun also die erneute Evakuierung. Israels Armeesprecher Nadav Shoshani betont, es handle sich um eine "Operation begrenzten Ausmaßes, keine großräumige Evakuierung von Rafah". Man beschränke sich auf östliche Teile der Stadt. Wie lange den Menschen dort Zeit bleibt, um ihre Zelte abzubauen und in einem rund sieben Kilometer entfernten Gebiet neu aufzustellen, sagt die Armee nicht. Aus offensichtlichen Gründen: Man will keine Deadline nennen, um die Hamas im Unklaren darüber zu lassen, wann die seit langem angekündigte Offensive in Rafah beginnt. In Pressebriefings will die Armee nicht einmal bestätigen, dass eine solche Offensive kurz bevorstehe. Explosionen Montagabend begründete man mit "Präzisionsangriffen".

Telefonat mit Pentagon

Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant hatte einen Angriff seinem US-Amtskollegen Lloyd Austin in der Nacht auf Montag aber angekündigt. Es bleibe den israelischen Streitkräften keine andere Wahl, als die Operation in Rafah zu beginnen. Gespräche über eine Waffenruhe waren zuvor fast völlig zum Erliegen gekommen, bis die Hamas Montagabend mit einer Meldung Aufsehen erregte: Man haben einen Vorschlag zur Waffenruhe angenommen.

Noch während sich laut Augenzeugenberichten in Rafah kleine Freudenfeiern bildeten, kamen allerdings zweifelnde Worte aus Israel: Der Waffenruhe-Vorschlag, den die Hamas angenommen habe, sei nicht jener, dem Israel vor einigen Tagen schon zugestimmt hatte. Trotzdem wolle man alle Möglichkeiten für eine Übereinkunft ausloten. Daher werde man erneut Verhandler nach Kairo entsenden.

Raketen aus Rafah

Am Tag zuvor hatten Terrorgruppen noch einmal eskaliert. Sie hatten Raketen auf einen israelischen Posten beim Grenzübergang Kerem Schalom abgefeuert, dabei wurden drei junge israelische Soldaten sofort getötet, ein vierter erlag am Montag seinen schweren Verletzungen. Zehn Soldaten müssen immer noch im Krankenhaus Soroka behandelt werden, zwei von ihnen befinden sich laut dem Sprecher des Krankenhauses in kritischem Zustand.

Der Grenzübergang wurde daraufhin für Hilfen geschlossen, wobei Premier Benjamin Netanjahu nach einem Telefonat mit US-Präsident Joe Biden am Donnerstag ankündigte, Güter bald wieder durchlassen zu wollen.

Israels Armee erklärte, die Raketen seien aus Rafah abgefeuert worden. Die Evakuierung – und die damit verbundene Drohung eines kurz bevorstehenden Angriffs in Rafah – wird als Reaktion auf den Schlag in Kerem Schalom dargestellt. An Erklärungsbedarf mangelt es Israel nicht: Seit Monaten warnen engste Verbündete – allen voran die USA, aber auch Deutschland – vor einer Offensive, die auch Israels Beziehungen zu den unmittelbaren Nachbarn Ägypten und Jordanien schwer belasten würde. In den USA und in Europa befürchtet man eine massive Verschlechterung der ohnehin schon angespannten Lage.

Rund 1,4 Millionen Binnenvertriebene sind in desolaten Zuständen in Rafah untergebracht, sie werden dort mehr schlecht als recht von Hilfsorganisationen versorgt. Eine groß angelegte Offensive in Rafah würde die Versorgung dieser notleidenden Menschen in Gefahr bringen, argumentieren die USA. Zudem ist umstritten, wie tauglich die Evakuierungspläne Israels sind: Laut den Flugblättern, die die Armee im Osten Rafahs abgeworfen hat, sind die Stadt Khan Younis und das Küstengebiet Al-Mawasi für die Evakuierung vorgesehen. Die humanitäre Zone in Al-Mawasi sei "ausgeweitet" worden, heißt es. Es gebe dort auch medizinische Versorgung durch Feldspitäler. Unicef-Sprecher James Elder widersprach diesen Aussagen im BBC-Interview: Al-Mawasi sei “ein Strandgebiet, quasi ohne Sanitäranlagen und ohne medizinische Versorgung."

"Mehr als überfüllt"

Augenzeugen aus Gaza berichten, dass Al-Mawasi bereits jetzt "mehr als überfüllt" sei, es gebe nicht ausreichend Platz für die zusätzlichen Evakuierten. Überprüfen lässt sich all das nicht. Laut Unicef befinden sich derzeit rund 600.000 Kinder in Rafah. Schon jetzt sei die überwiegende Zahl von ihnen verletzt, krank oder unterernährt.

Unklar ist, wie viele Menschen von der Evakuierung betroffen sind. Israels Armee erklärte, die Evakuierung betreffe rund 100.000 Menschen. Die palästinensische Menschenrechtsorganisation Mezan erklärte, dass sich in den von Israel als Räumungszone markierten Gebieten derzeit "mehrere Hunderttausend" Menschen aufhielten. "Viele von ihnen wurden bereits einige Male vertrieben", sagt eine Sprecherin. Die Familien hätten den Glauben verloren, dass es irgendeinen Ort in Gaza gibt, an dem sie sicher sind. Das könnte viele von ihnen davon abhalten, Rafah zu verlassen, glaubt auch Mustafa Elmasri, Psychiater in Gaza. "Patienten rufen mich an und bitten mich um Rat, aber ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll."

Ob und wann es eine Bodenoffensive geben wird, ist weiter ungewiss. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell warnt vor den Folgen einer solchen Invasion. "Israels Evakuierungsaufforderung für die Zivilbevölkerung in Rafah deutet auf das Schlimmste hin: mehr Krieg und Hungersnot", schrieb Borrell auf X. Israel müsse auf eine Bodenoffensive verzichten, die EU und die internationale Gemeinschaft "können und müssen handeln, um ein solches Szenario zu verhindern".

Die Gespräche in Kairo rund um eine mögliche temporäre Waffenruhe und die Freilassung der Geiseln aus der Gewalt der Hamas sind nun erneut zum Stillstand gekommen. Israel gibt der Hamas die Schuld – die Terrorgruppe habe unerfüllbare Forderungen aufgestellt, sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Sprecher der Hamas wiederum behaupten, dass Israel von Beginn an keinen Kompromiss gewollt habe. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 6.5.2024)