Der Abend
Der Abend "Les Sylphides" in der Volksoper.
Ashley Taylor

Für jede Generation hat das Ballett neue Lesarten parat. Wie diese aussehen können, ist jetzt bei dem neuen, dreiteiligen Premierenabend Les Sylphides des Wiener Staatsballetts an der Volksoper und dem Gastspiel Assembly Hall der kanadischen Choreografin Crystal Pite im Festspielhaus St. Pölten zu erfahren.

Die Volksoper zeigt Michel Fokines titelgebendes Stück Les Sylphides aus dem Jahr 1909, danach die Uraufführung von Eden der aufstrebenden Choreografin Adi Hanan und zum Schluss Jeunehomme (1986) des früh verstorbenen deutschen Überfliegers Uwe Scholz. Fokins Sylphiden-Tanz und Hanans Neudeutung des alttestamentarischen Mythos von Eva und Adam am Baum der Erkenntnis zielen auf unser Geschichtsverständnis. Dazu verhält sich Jeunehomme in dieser Kuratierung wie ein Echo.

Gegenwartsbezug

Der Gegenwartsbezug des Abends ist nicht zu übersehen. Wie sich gerade zeigt, sind historische Entwicklungen die Herausforderungen von heute. Fortschritt ist nie linear, sondern ein Tanz auf Messers Schneide. Genau das ist bei Michel Fokine, der 1909 von Serge Diaghilew als Choreograf zu dessen legendären Ballets Russes nach Paris geholt wurde, zu sehen.

Bei Les Sylphides wird das Ballett zur Metapher einer Kränkung, die der Menschheit von Schwerkräften zugefügt wird. Denn trotz aller Bemühungen können wir uns weder von der Gravitation des Planeten noch jener der Geschichte befreien. In dieser Vergeblichkeit brillieren bei Fokine die tanzenden Luftgeister: Wenn sich eine Ballerina auf Spitze begibt, zum Sprung ansetzt oder hochgehoben wird, ist sie zugleich wie Ikarus, eine Astronautin und das Phantasma, die Sterblichkeit könnte überwunden werden.

Beziehung als Tanz

All das beginnt, wie Adi Hanan in Eden vorführt, mit einem Hinauswurf als Folge des tabubrechenden Griffs nach dem Apfel. Mit der Vertreibung aus dem Paradies fällt die Unmündigkeit weg. Aber der Preis der Erkenntnis ist die permanente Kränkung der Menschen durch Konfrontationen von Wunschvorstellungen mit deren häufiger Unerfüllbarkeit. Und weil kein Weg ins Paradies zurückführt, muss Uwe Scholz zum Abschluss des Abends die wunschüberladene Beziehung zwischen Liebenden als Tanz der konfliktreichen Bemühungen Revue passieren lassen.

Dass zu den Folgen des biblischen Hinauswurfs auch die Freuden und Tragödien der Reproduktion zählen, legt Assembly Hall nahe, mit dem Crystal Pite im Festspielhaus St. Pölten gastiert: Denn die Choreografin – die früher etwa für William Forsythe getanzt hat – reflektiert mit diesem Tanz den Niedergang eines Kunstvereins. Hier werden Tanz- und Theaterelemente miteinander verbunden. Die exzentrisch angelegte Handlung ereignet sich in der Imagination eines mythischen Reichs, und auch die Erfahrung von Hinauswurf und Exil spielt eine zentrale Rolle. (Helmut Ploebst, 7.5.2024)