Farbod will eigentlich nur seinen Führerschein neu beantragen. Aber er wird vom Beamten gedemütigt und muss sich wegen seiner Tattoos nackt ausziehen.
Farbod will eigentlich nur seinen Führerschein neu beantragen. Aber er wird vom Beamten gedemütigt und muss sich wegen seiner Tattoos nackt ausziehen.
Neue Visionen Filmverleih

Ein Regisseur sitzt mit seinem Drehbuch im iranischen Kulturministerium und will eine Genehmigung, um seinen neuen Film zu drehen. "Wenn wir sagen, wir haben kein Problem mit dem Drehbuch, ist damit gemeint, dass wir nichts dagegen haben, dass Sie einen Film drehen", heißt es von der anderen Seite. Die andere Seite, das ist die Bürokratie.

In jeder der neun Episoden des iranischen Films Irdische Verse sehen wir Menschen, die mit einer übermächtigen Staatsmacht konfrontiert sind. Das Gegenüber ist dabei nur als Stimme präsent. "Streichen Sie die Seiten 16 bis 26", heißt es aus dem Off. Verzweifelt beginnt der Regisseur, Seiten aus seinem Drehbuch zu reißen. "Erzählen Sie eine gute Geschichte", sagt die Stimme. Was eine gute Geschichte sei? Eine aus dem Koran, legt der Vertreter des iranischen Kulturministeriums nahe.

Eigene Erfahrungen

"Genau diese Erfahrung habe ich mit der Zensurbehörde im Iran gemacht", erzählt Alireza Khatami, einer der Regisseure von Irdische Verse. Seine Premiere feierte der Film 2023 in Cannes. Bei der Rückkehr in den Iran wurde der Reisepass von Ali Asgari, dem Co-Regisseur, eingezogen, um seine Teilnahme an weiteren Filmfestivals zu verhindern. "Für acht Monate haben die Behörden seinen Reisepass einbehalten, damit er nicht mehr ausreisen kann", erzählt Khatami. Auch eine Inhaftierung wurde ihm angedroht. Das Vergehen? Diesen Film ohne Erlaubnis zu machen, ohne staatliche Finanzierung. "Wir wollen hier nicht die Opfer spielen. Wir sind sehr stolz auf unseren Film und tragen gerne die Konsequenzen dafür", sagt Khatami. Jede Regierung habe eine rote Linie, die man nicht übertreten dürfe.

Sadaf wird beschuldigt, in ihrem Auto ihren Hijab nicht getragen zu haben.
Sadaf wird beschuldigt, in ihrem Auto ihren Hijab nicht getragen zu haben.
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In Deutschland sei Kritik am Umgang mit der Umwelt die rote Linie. In den Vereinigten Staaten von Amerika, so Khatami, wäre das, welches Land man als Nächstes bombardieren solle. Und im Iran? Da ist die rote Linie, was mit den Frauen geschieht. Gesellschaftliche Diskriminierung von Frauen wird im Iran nämlich in der Scharia – dem islamischen Rechtssystem – gesetzlich geregelt. Männer haben das Recht auf Sex mit der Ehefrau auch ohne deren Zustimmung, in der Öffentlichkeit müssen sich Frauen verschleiern. Vor Gericht braucht man mindestens zwei Frauen, um der Aussage eines Mannes zu widersprechen. Frauen sind nur halb so viel wert. Weil sich Irdische Verse mit diesem unterdrückenden Alltag auseinandersetzt, wurde er auch vollständig ohne staatliche Unterstützung gedreht. Khatami habe zwei andere Jobs benötigt, um ihn zu finanzieren. "Der Film war ein großer Erfolg, die Leute lachten sich den Arsch ab und amüsierten sich", erzählt Khatami.

Absurde Komik

In einer der Episoden wird eine Frau beschuldigt, ohne Hijab Auto gefahren zu sein. In einer anderen Episode sucht eine Frau auf der Polizeiwache ihren Hund, der beschlagnahmt wurde. Der Polizist will ihr erst nicht helfen, bietet ihr dann aber einen anderen beschlagnahmten Hund an. Auf dem Meldeamt will ein Mann seinen Sohn David nennen. Er darf nicht, David sei ein zu wenig iranischer Name, sagt ihm der Bürokrat. "Die Komik ist ein organischer Teil in diesen Konversationen zwischen großer Macht und verletzlichen Individuen", erklärt Regisseur Khatami. Wir sind ständig Macht unterworfen. Gleichzeitig würden wir mit unserer Macht aber auch bei jeder Gelegenheit andere Menschen unterwerfen.

Der Titel ruft unweigerlich Assoziationen zu Salman Rushdies Die satanischen Verse hervor. Bei seinem Erscheinen löste der Roman eine Reihe von Protesten fundamentalistischer Muslime aus – der oberste iranische Führer Chomeini rief 1989 dazu auf, Rushdie zu töten. 2022 wurde der Autor tatsächlich attackiert und überlebte nur knapp. "Ich bewundere ihn als Autoren, vor allem seine früheren Werke wie Mitternachtskinder haben mich geprägt", erzählt Regisseur Khatami. Trotzdem habe der Film nichts mit Rushdie zu tun. Inspiriert habe ihn ein gleichnamiges Gedicht von Forugh Farrochzad, einer der bedeutendsten iranischen Dichterinnen. In einer Episode hat ein Mann genau dieses Gedicht über den ganzen Körper tätowiert – und er muss sich deswegen vor der Behörde nackt ausziehen – obwohl er eigentlich nur seinen Führerschein erneuern wollte.

Großer Protest im Kleinen

Diesen Alltagsprotest gegen ein repressives System stellt Irdische Verse auf wunderbar subtile Weise dar. Er zeigt, dass Menschen nach Freiheit und Privatsphäre streben – ein universelles Streben, das nicht nur in einem autoritären Staat wie dem Iran gilt. "Wir sehen uns selbst in diesen Situationen – und ich will nicht dort sein", sagt Khatami. Er ist sich sicher, überall in der Welt wird man es schwerhaben, wenn man die rote Linie übertritt. Eine letzte Frage hat der Regisseur dann selbst: "Wie könnte der Film in Österreich aussehen?" (Jakob Thaller, 10.5.2024)