"Es war die beste aller Zeiten, es war die schlechteste aller Zeiten. Es war das Zeitalter der Weisheit, es war das der Dummheit, es war die Epoche des Glaubens, es war die des Unglaubens ... wir hatten alles vor uns, wir hatten nichts vor uns." (Charles Dickens)

Im Altertums-Museum liegen die Konsumgüter längst vergangener Kulturen, Möbel, Werkzeuge, Schmuck, luftdicht und staubgeschützt verpackt in der Vitrine, einer Gruft aus Glas. Die alten Griechen hinterließen uns prächtige Vasen, einarmige Statuen und die eine oder andere Papyrus-Rolle. Von der Maya-Kultur aus Südamerika hingegen sind scharfe Onyx-Messer erhalten – und, das ist ja das Erstaunliche, kein Rad. Das Museum hat auf Zetteln die Entstehungszeit, das Material und den vermuteten Zweck der Objekte notiert – und die Besucher machen sich anhand der Gegenstände ein Bild von den Menschen der betreffenden Epoche: Die Griechen waren weise Männer, die die Kunst schätzten, die Maya aber wütende Krieger mit großen Muskeln (sie hatten ja keinen Pferdewagen). Die antiken Artefakte, sogenannte Kultgegenstände, beinhalten Sinn-Spuren, die DNA ihrer Entstehungszeit. Und während man zwischen den Vitrinen und an den Schaukästen vorbei wandelt, wie durch einen antiken Supermarkt, fragt man sich, was eigentlich von unserer Gegenwart in der Museumsvitrine landet.

Jede Kultur, jede Epoche produziert prototypische Produkte. Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, die sogenannten Nullerjahre, bilden da keine Ausnahme. Wenn wir uns bewusstmachen, was wir während der Nullerjahre täglich in den Händen gehalten haben, was wir benutzt, begehrt und wovor wir uns gefürchtet haben, lernen wir mehr über das frühe 21. Jahrhundert als durch alle Bilder und Texte. Warum haben wir uns im Jahr 2001 noch einmal kollektiv in ein kleines Gerät der Firma Apple verliebt? Warum haben wir begonnen, wie verrückt fermentierte Fruchtsäfte in uns hineinzuschütten (oder Kaffee aus Pappbechern?) Ein kurzer Rundgang durch das Museum unserer gerade vergangenen Gegenwart, die einmal die Zukunft war.

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Foto: EPA/Frank Maechler

Flatrate

Der Mensch sehnt sich seit Anbeginn der Tage nach dem Garten Eden zurück, nach der Absenz des Mangels, dem Exzess ohne Folgen. "Und Gott der HERR ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen" , hieß es im Buch 2 der Genesis. Bei der Flatrate handelt es sich um die moderne Version des Paradies-Prinzips, sie verspricht "unbegrenzte Mengen" eines bestimmten Gutes oder einer Dienstleistung, sie verheißt eine Art Paradies 2.0, in dem zwar Milch und Honig immer noch nicht fließen, aber zumindest die Bits und Bytes.

Die erste Flatrate in Deutschland wurde im Jahr 2000 von der Firma Mobilcom angeboten – für 77 Mark (!). Die Konsumenten und Regulierungsbehörden standen dem neuen Abrechnungsmodell übrigens erst einmal skeptisch gegenüber – als sei die Flatrate ein unmoralisches Angebot. Die Flatrate wurde schnell zum vorherrschenden Vertragsmodell der Telekommunikationsindustrie. Die Megaflaute folgte auf die Superflat. Bald wurde die Flatrate nicht nur für Datentransfers, sondern auch für alle anderen Dienstleistungen angeboten: Fitnessstudios (unbegrenzte Protein-Shakes), Taxis (unbegrenzte Mobilität), und selbst das Schauspiel Frankfurt (Endless Drama, baby!) boten "'ne Flat" an. Bordellbesitzer in Berlin und Baden-Württemberg erfanden die Sex-Flatrate und erdachten den schönen Slogan: "Du kannst sie alle haben" .

In Verruf geriet das Flatrate-Modell, als Gastwirte im Jahr 2007 die All-you-can-drink-Party erdachten und ein 16-Jähriger nach ein paar Dutzend Tequilla-Shots ins Koma fiel und später starb. Die Flatrate-Party wurde zum Symbol für Maßlosigkeit und Genusssucht der Zeit. Nicht vollkommen zu unrecht, denn die unbegrenzte Verfügbarkeit eines Gutes bedeutet immer das Ende seines rationalen Gebrauchs. Oder anders: Der Flatrate folgt das Delirium.

Bionade

Die Bionade war der Drink der Nullerjahre, das kann man schon daran erkennen, dass die Flüssigkeit in den 90ern keinen Menschen interessierte. 1995 wurde in der deutschen Provinz die erste Flasche abgefüllt. Das Rezept war das gleiche, aber die Zeit oder der Zeitgeist noch nicht bereit. Zur Ikone der Feel-good-Ökologie wurde die Bionade erst, als die Flaschen mit dem Retro-Design und authentisch-abseitigen Zutaten wie Ingwer-Litschi-Holunder in der Hamburger Szene-Bar Gloria angeboten und zum Lieblingsgetränk der lokalen Medienschaffenden wurden.

Im Jahr 2000 verkaufte Bionade nur wenige hunderttausend Flaschen. 2003 waren es etwa eine Million, 2005 schon 20 Millionen und 2007 dann über 250 Millionen. In einer Zeit ohne philosophische oder politische Gewissheiten war die Bionade eines der letzten Dinge, auf die sich alle einigen konnten. Coca-Cola, der große Bionade-Konkurrent, stand für den American Way of Life, der mit der Unterstützung von Cruise Missiles und B-52-Bombern auf der Welt verbreitet wurde. Die Bionade hingegen stand für Gesundheit, Verantwortungsbewusstsein, lokales Produzententum im Einklang mit der Natur.

Wer Bionade trank, der tat nicht nur etwas für die eigene Ernährung, sondern protestierte scheinbar auch gegen oligopolen Konsumkapitalismus und den Klimawandel. Wir sind die Guten. Prost!

Als man den Öko-Drink gegen Ende der Nullerjahre aber auch bei Starbucks und McDonald's kaufen konnte, nahm die Öko-Aura des Produkts schweren Schaden. 2009 ging der Verkauf um 20 Prozent zurück. Die Menschen hatten verstanden, dass die Öko-Brause vielleicht gar nicht "Al Gore in Flaschen" war, wie Firmen-Chef Peter Kowalsky so gerne sagte. Sondern ganz einfach nur eine Limonade.

Smartphone

In der industriellen Gesellschaft wurden die Arbeiter von der (Stech-)Uhr kontrolliert. Die Arbeit war hart, aber sie hatte zumindest einen Anfang und ein Ende. Im 21. Jahrhundert aber wird der Arbeitnehmer zum Sklaven seines Smartphones. Von den Wissensarbeitern, Consultants und Feld-Wald-Wiesen-Angestellten wurde nun erwartet, dass sie sich, durch einen Alarmanruf oder eine Emergency-E-Mail aktiviert, auch noch um 23 Uhr für den Arbeitgeber einsetzen, egal, ob das Smartphone nun in der Oper klingelte, im Lokal oder im Schlafzimmer. Das Smartphone tötete den geregelten Arbeitstag, das Büro war überall dort, wo das mit E-Mail und Internet aufgerüstete Handy ein paar Funkwellen aufschnappte. Der technologisch-ökonomische Wandel verlief rasant: Im Jahr 2000 verkaufte der Smartphone-Gigant Blackberry noch weniger als 100.000 Exemplare. 2008 waren es dann bereits 28 Millionen. Nokia, Motorola und Co brachten Me-2-Produkte auf den Markt. Office to go. Das Smartphone war das perfekte Symbol für die globalisierte Echtzeit-Wirtschaft. Während der schreibmaschinenhafte Blackberry noch die Anmutung eines Arbeitsgeräts besaß, wirkt das iPhone von Apple, das 2007 auf den Markt kam, wie ein Designobjekt oder Spielzeug, etwas, das man gerne in der Hand hält. Auf der glänzenden Benutzeroberfläche des iPhones verschmolzen Arbeit und Freizeit zu einem Hybridzustand, der Traum und Albtraum zugleich war. Totale Flexibilität und Mobilität gingen einher mit totaler Verfügbarkeit.

Das interessante an dieser Entwicklung war vor allem, dass sich niemand ernsthaft darüber beschwerte. Im frühen 21. Jahrhundert machte man lieber Witze über faule Beamte, "die um 16.30 Uhr den Kugelschreiber fallen lassen" und nur Dienst nach Vorschrift machten. "Nine to five" , die klassische Arbeitszeit, für die Arbeiter mehr als 100 Jahre lang gekämpft und die sie dann zwei oder drei Jahrzehnte genossen hatten, wurde zu einem unanständigen Wort, der Religion der Underperformer. Auch die Klage, dass der Chef wieder um halb zwei Uhr nachts eine Mail geschickt habe, nahm man den Leuten nicht wirklich ab. Die Jammerei über die Dauererreichbarkeit war unter den Bedingungen von großer Rezession und dereguliertem Arbeitsmarkt doch eher ein dezenter Verweis auf die eigene Unentbehrlichkeit.

Foto: Apple

iPod

Das beliebteste Schmuckstück der Nullerjahre bestand nicht aus Gold und Diamanten, sondern aus Kupfer, Plastik und Aluminium. Es war ein äußerst schlichtes Objekt, das sich die Leute an die Ohren hängten: ein weißes Kabel und zwei Metallknöpfe, die Kopfhörer für den MP3-Player iPod der Firma Apple. Wer in den Nullerjahren mit dem weißen Apple-Kopfhörer in der Öffentlichkeit unterwegs war, der machte sich zum Teil einer globalen Kult-Gemeinde – das weiße Kabel passte zum grauen Anzug und zu jedem anderen Aufzug, wurde von Geschäftsleuten, Neo-Punkern und Emos gleichermaßen getragen. Bis Anfang 2009 verkaufte Apple mehr als 220 Millionen Player und hatte einen Anteil von 70 Prozent auf dem digitalen Musikmarkt. Es fällt heute schwer, das Zustandekommen dieses Monopols schlüssig zu erklären. Dem Erfolg des iPod lag schließlich kein Patent oder Technologievorsprung zugrunde. Natürlich vergrößerte die Firma kontinuierlich die Größe der Festplatte, steigerte den Speicherplatz von 10 GB (2001) auf 160 GB (2009) – auf dem iPod der jüngsten Generation kann man etwa 16.000 Lieder oder 19.200 Minuten Film speichern. Legt man den iPod neben andere MP3-Player der Ära, fällt auf, dass viele Konkurrenzprodukte zu Beginn der Nullerjahre mit Neonlicht, vielen Knöpfen und unzähligen Funktionen ausgestattet waren, die vermutlich den Hightech-Charakter des Geräts betonen sollten.

Der iPod dagegen hatte nur einen Knopf und einen recht großen Bildschirm – edle Einfachheit, stille Größe. Der iPod wollte gar kein modernes Gerät sein, sondern ein Klassiker schon in der Stunde seiner Geburt. Und während sich die meisten Firmen darin überboten, eine immer kleinere Außenhaut mit einer immer größer werdenden Innenwelt zu versöhnen, achtete Apple penibel darauf, dass der iPod immer auch groß und schwer genug war, um als sinnlicher Gegenstand zu wirken. Der iPod lag schwer in der Hand, schwer wie ein Stein, der durch die Strömung eines Flusses glattgewaschen wurde, hatte eine schmeichlerische, verführerische Qualität und schmiegte sich an den Körper seines Benutzers an. Steuern konnte man das Gerät vor allem durch eine kreisförmige Geste auf dem zentralen Navigationsrad; eine Bewegung, als würde man eine Katze hinter dem Ohr streicheln. So entstand eine nie dagewesene Intimität zwischen Mensch und Maschine, die durch die Einführung des Touchscreens, das Streicheln, Wischen, Stupsen, nur gesteigert wurde.

Zahnbleichmittel

Der Schönheitskult der Nullerjahre ist nicht nur auf Kassenzetteln und Fotografien der Modemagazine bestens dokumentiert, sondern hinterließ seine Spuren auch im Körper der Konsumenten, auf ihren Knochen und Kiefern. Sollten in ferner Zukunft mal Totenschädel aus unserer Generation in Altertumsmuseen liegen, so werden ihre Zähne nicht abgenutzt und verfärbt aussehen, sondern den zukünftigen Museumsbesuchern durch ihre perfekte Form und das unnatürliche Weiß imponieren. Unsere Schädel werden ein grelles Grinsen zeigen, ganz so, als wüssten wir es nun besser und würden über den Traum von ewiger Jugend und Schönheit lachen.

Zahnpflege beschränkte sich in den Nullerjahren nicht nur auf Karies-Prophylaxe und die Reinigung von Zahnzwischenräumen, sondern beschäftigte sich zunehmend mit der ästhetischen Optimierung und vor allem den Farbsignalen, die ein Mensch aussendet, wenn er seinen Mund öffnet. Mit Chemikalien, Schleifgeräten und Sandstrahlern rückten die Zahnärzte den Kaffeeflecken und anderen Verfärbungen zu Leibe – "Bleaching" nannte man den Trend, ein Wort, das bewusst der Sprache der Waschmittelindustrie entlehnt wurde, die auch ein Ergebnis verspricht, das weißer ist als weiß. Perlweiß, Colgate Extrem, Crest Night Effects, Whitestrips und die "alterungshemmende, weißende" Mundspülung.

Im frühen 21. Jahrhundert mussten die Menschen den Körper nicht länger zur physischen Arbeit missbrauchen und gaben ihm deshalb einen neuen Zweck: Er wurde nun als Instrument der Repräsentation genutzt, als Visitenkarte, als Abbild von Kraft, Gesundheit und Leistungswillen. Und so erfüllte sich in den Nullerjahren endlich die düstere Prophezeiung von Adorno und Horkheimer: "Es wird vom Menschen verlangt, sich zum erfolgsadäquaten Apparat zu machen, der bis in die Triebregungen dem von der Kulturindustrie präsentierten Modell entspricht. (...) Personality bedeutet ihnen kaum mehr etwas anderes als blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen."

Foto: photodisc

Coffee 2 Go

Der "Coffee to go" gehörte in den Nullerjahren neben Laptoptasche, Headset und Sneakern zum Standard-Outfit des modernen Flaneurs. 2008 wurden allein in den USA mehr als 16 Milliarden Kaffeebecher aus Papier verbraucht. Schätzungen gehen davon aus, dass weltweit jedes Jahr 300 Milliarden Wegwerfbehälter auf den Müllhalden landeten. Die Überreste einer enormen Koffein-Orgie.

Die Zahl der Coffeeshops in Deutschland stieg zwischen 2001 und 2008 von 800 auf über 2500, der Espresso-Konsum verdreifachte sich. Die Menschen tranken Kaffee auf dem Weg zur Arbeit, beim Shoppen, im Auto und in der Bahn, waren immer in Bewegung und immer voll auf Koffein. In Fußgängerzonen, Bahnhöfen und anderen Passantenhighways tauchten Coffeeshops auf wie Tankstellen an der Autobahn.

Milchkaffee, Kaffeecreme, Double Espresso und andere Kaffeederivate wurden zur Hauptkalorienquelle des Stadtmenschen – eine Weiterentwicklung des Fastfoods der Achtzigerjahre. Für einen Burger musste man immerhin noch fünf Minuten in der fettgesättigten Atmosphäre eines McDonald's-Restaurants verweilen. Im frühen 21. Jahrhundert hatte man dafür schon keine Zeit mehr und schlürfte den Lactose-Koffein-Mix im Laufschritt: Fastfood 2.0, Flüssignahrung. Der Milchkaffee ähnelte in Konsistenz und Konsumierung der Tubennahrung, die Raumfahrer und Rennfahrer zu sich nehmen. Und genau so, so ist zu vermuten, sahen sich die Menschen dieser Zeit auch: als Reisende, die mit hoher Geschwindigkeit in unbekannte Sphären und Dimensionen vordrangen.

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Foto: EPA/ADRIAN BRADSHAW

ISO-Seecontainer

Der Containerhafen Hamburg sah aus der Vogelperspektive aus wie das Kinderzimmer der Götter: Blaue, rote, gelbe Klötze stapelten sich bis zu 30 Meter hohen Türmen und Mauern, ganz so, als hätten riesige Hände die überdimensionalen Lego-Steine für ein Spiel geordnet und wieder zerstreut. Genau wie Lego-Steine hatten auch die ISO-Seecontainer, mit denen ein Großteil des globalen Handels abgewickelt wird, eine genormte Größe (2,44 breit, 2,59 hoch und 5,9 bzw. 12,2 lang) und hatten eine große Vielfalt an Einsatzmöglichkeiten. Die ISO-Seecontainer, die in Containerhäfen gestapelt wurden, waren oft mit chinesischen, russischen und arabischen Buchstaben verziert, und wenn man im Hamburger Hafen dabei zusah, wie die Roboter-Kräne und automatisierten Lastwägen nach geheimnisvollen Regieanweisungen die Container griffen, verschoben und verluden, erlebte man erst den abstrakten Begriff Globalisierung und ahnte die Größe, Macht und das Chaos, die dieser Prozess besaß – der wilde Tanz der Weltwirtschaft.

Der ISO-Seecontainer wurde nicht im 21. Jahrhundert erfunden. Der amerikanische Truck-Tycoon Malcolm McLean kam schon in den 50ern auf die Idee, dass man Kosten für die Be- und Entladung von Schiffen sparen könnte, wenn die Fracht nicht mehr in vielen verschiedenen Formen wie Säcke, Kisten, Truhen kommen würde und von den Scheuermännern mit Muskelkraft und Seilwinden entladen werden musste. McLean ließ deshalb am 26. April 1956 einen ersten Container auf das Schiff "Ideal-X" verladen und von New Jersey nach Houston verschiffen. Der Durchbruch kam für McLean während des Vietnam-Krieges, als er mit Containern das Logistik-Chaos der US-Marine beseitigte, mal wieder erwies sich der Krieg als große Innovationsmaschine.

Der Container feierte im Jahr 2006 den 50. Geburtstag und hatte doch erst im 21. Jahrhundert durch eine eng vernetzte und enorm beschleunigte Weltwirtschaft sein ideales Biotop gefunden und sich in rasender Geschwindigkeit verbreitet: Im Jahr 2007 kreisten 400 Millionen Blechkisten um die Welt. Der Container konnte maximal 30 Tonnen Fracht aufnehmen. Er war groß genug, um einen Raupenbagger zu schlucken, oder zwei Autos, 38 Motorräder, 238 Kühlschränke, 10.000 Paar Schuhe, 34.800 Gläser Spargel oder 267.000 CDs – oder wahlweise auch 20 Kandidaten einer Reality-TV-Sendung wie Big Brother. Das Fernsehen thematisierte "das Leben im Container" im Jahr 2000 und rückte den stillen Star der Globalisierung zum ersten Mal ins Rampenlicht. Der ISO-Seecontainer war im Alltag nicht zu sehen, aber ohne ihn wäre das Leben nicht das, was es ist. Weil es nur 2000 Dollar kostete, einen gefüllten Container von Schanghai nach Hamburg zu schicken, konnten Firmen es sich leisten, ihre Einzelteile auf der ganzen Welt zu bestellen und zu verschicken. Die Transportkosten einer Flasche Wein von Australien nach Europa betrugen zwölf Cent. Ohne den Seecontainer war der globale Konsum nicht vorstellbar.

Der Rollkoffer

Der Rollkoffer oder Trolley war zunächst ein Piloten-Instrument wie das Seitenruder oder die Schulterklappen. Bedeutungsschwer führten die Piloten den Koffer hinter sich her, als wäre das Gepäckstück für den Traum vom Fliegen ebenso wichtig wie die Turbine und der Treibstoff. Die Businessmen und Consultants schauten sich diesen Trick bald ab, teilten sie mit den Aeronauten doch den transnationalen und hypermobilen Lebensstil und eine gewisse Affinität zur Hochtechnologie. Demokratisierung der Flugreisen durch Ryanair und Easyjet machten den Rollkoffer dann endgültig zum Jedermann-Equipment. Erfunden hatte den Rollkoffer der amerikanische Pilot Robert Plath, der in den 90er-Jahren die Firma Travelpro gegründet hatte. Erst in den Nullerjahren aber wurde Plaths Erfindung zum Megatrend, die Gepäckgiganten Samsonite und Renowo stiegen ebenso in den Markt ein wie Tchibo und Aldi, selbst der Modeschöpfer Alexander McQueen entwarf eine Trolley-Kollektion. Rollkoffer sah man zu dieser Zeit so häufig auf der Straße wie Pkws und Fahrräder, sie waren das perfekte Ausrüstungsstück für den täglichen Hindernisparcours.

Im 20. Jahrhundert transportierten die Menschen ihr Eigentum im Automobil über die Erdoberfläche, von Punkt A nach Punkt B, was auch der Erkenntnis geschuldet war, dass man an Punkt B, Urlaubsort oder Arbeitsplatz, zumindest so lang verweilte, dass sich das Auspacken lohnte. In den Nullerjahren zirkulierten die Menschen im mehrdimensionalen Kontinuum des Transitraums, erledigten ihre Telefonkonferenzen, Real-Life-Meetings und Kundenkontakte zwischen Flughafen und Schnellzug, auf Rolltreppen und in der Fußgängerzone. Der Rollkoffer war der Kofferraum für den Fußgänger.

Den Rollkoffer steuerte man mit nur einer Hand und mithilfe eines versenkbaren Vertikalbügels aus Aluminium über das Parkett, hatte immer noch eine Hand frei zum Multitasken, transportierte den Kaffeebecher oder tippte eine SMS mit dem Smartphone.

Immer öfter begannen die Menschen den Rollkoffer auch im Alltag einzusetzen, in Bahn oder Bus, auch auf dem Weg in den Park, zum Shoppen, zum Cruisen auf zwei Rollen. "Life is a journey" , lautete der Werbespruch des führenden Herstellers Samsonite – und betonte im Katalog, dass der Rollkoffer mit Eigenschaften wie "Kreuzspanngurte" , "Stabilisierungsfunktion" und "Spinner Brake System" fast so bequem sei wie ein vollwertiges Kfz. Menschen hatten ihr Hab und Gut viele Jahrtausende lang in Säcken und Kisten herumgeschleppt, mit krummem Rücken und schmerzenden Handgelenken. Der Rollkoffer hat den buckligen Gang von Dienern und Sklaven aus dem Straßenbild eliminiert, alle schreiten dahin wie ein Herr – dank "vier Rollen mit 360 Grad" , die, wie Samsonite betont, "den aufrechten Gang ermöglichen" . Der Mensch hat sich mit seiner Technologie wieder zum Menschen gemacht. (Tobias Moorstedt und Jakob Schrenk, ALBUM – DER STANDARD/Printausgabe, 02./03.01.2010)