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Tito wurde im "Haus der Blumen" beerdigt, was zu schön klang, um mit dem Tod in Verbindung gebracht zu werden. Für uns war er aber immer noch lebendig. Er schaute immer noch in den Klassenzimmern auf uns herab.

Foto: Reuters

In der Schule musste ich eine blaue Kutte tragen. Wegen der "Brüderlichkeit und Gleichheit" . Das war das Motto von Titos Jugoslawien. Und Tito blickte immer und von überall auf uns herab. Um zu sehen, ob wir alle brav brüderlich und gleich waren. In jedem Klassenzimmer hing ein schwarz-weißes Bild von ihm. Direkt über der Tafel. Tito.

Was für ein Name! Wie Cher oder Madonna. Wie Jesus. Oder Che. An einen Menschen mit solch einem Namen muss man einfach glauben. Und er war allgegenwärtig: Er war in jedem öffentlichen Raum, in den Zeitungen, im Fernsehen und in den Filmen. Wir dachten, er würde für immer da sein. So wie die Sonne.

Ich mochte Tito! Er erinnerte mich an meinen Großvater. Nicht, dass sie sich ähnlich sahen. Vielleicht war es nur die Brille mit dem dicken Rahmen. Oder der Blick des Menschen, der alles wusste.

Aber Tito wusste nicht alles. So wusste er zum Beispiel nicht, dass meine Mama nähen konnte. Und dass sie es gerne für mich tat. Das waren die Zeiten, als man, um etwas Besonderes zu haben, es selber machen musste. Oder ins Ausland fahren. Also ja, meine Kutte war blau, hatte aber Rüschen um die Schultern und am Rock und auch eine riesige Schleife am Popo. Sogar uniformiert sah ich anders aus. Ich war die sozialistische Sarah Kay. Die Prinzessin der blauen Kutten.

Das mit der Gleichheit in Jugoslawien war überhaupt sehr interessant. Ja, wir waren gleich, es gab aber Gleiche und Gleichere. Meine besten Freunde in der Schule waren: Titos Enkelsohn, der Sohn der berühmtesten jugoslawischen Opernsängerin, der Enkel des Staatspräsidenten zwischen 1983 und 1984, die Tochter eines Schaffners und die Tochter einer Kellnerin. Ich weiß nicht, ob das an der Gleichheit oder nur an unserem Alter lag. Aber insgesamt waren wir wirklich alle irgendwie gleich. Oder besser gesagt, die Unterschiede waren nicht groß. Alle hatten einen sicheren Job, ein Dach über dem Kopf, ein Auto, und alle kauften in den gleichen Geschäften ein. Wir gingen auch alle in die gleiche Ballettschule und zum gleichen Schwimmtraining.

Meine Eltern waren gleicher. Und dabei war unser einziger Luxus, dass meine Mama auf der Straße erkannt wurde, was manche Türe schneller öffnete (das war wichtig, weil sich Mama immer verspätete). Sie war Schauspielerin, eine der berühmtesten in Jugoslawien, und trotzdem arbeitete sie auch als Grafikdesignerin für die einzige kroatische Schülerzeitung. In Jugoslawien waren Stars gleich wie Nichtstars. Niemand verdiente mehr Geld, weil er/sie ein Star war. Ich besuchte Mama wahnsinnig gerne auf den Sets, und noch lieber spielte ich selbst mit. So verdiente ich mir mein erstes Fahrrad. Papa war Architekt und plante Kindergärten und Schulen. Wir standen oft in Zeremonien, als er Preise erhielt, und der schwarz-weiße, streng eingerahmte Tito blickte immer stolz auf uns herab.

Während die Eltern arbeiteten, war ich in der Ganztagsschule. In Jugoslawien hatte jeder einen Job, und es war auch selbstverständlich, dass Frauen arbeiteten. Hausfrau war für uns ein unbekannter Begriff. Die Schule endete um vier Uhr, und danach ging ich in die Ballettschule.

Ja, Ana, so wie Anna Pawlowna! Ballett war für die Mädchen aus gleicheren Familien ein absolutes Muss. Es gab nur eine Ballettschule, und das war die der Staatsoper. Sie war natürlich gratis, so wie für Jungs Hockey, Basketball oder Schwimmen gratis war. Und da sie gratis war, musste man eine Aufnahmeprüfung bestehen. Der Staat wollte kein Geld auf hoffnungslose Pawlownas verschwenden.

Der Ballettunterricht war genauso trocken wie der Unterricht in der Schule, aber die Atmosphäre war romantischer. Die Ballettschule war in der Altstadt in einem Altbau, aus dem man über ganz Zagreb blicken konnte. Von meinem Platz beim Fenster schaute ich direkt auf einen Magnolienbaum, der im Frühling mit atemberaubenden rosa Blüten bedeckt war. Das war das einzige Rosa in der Ballettschule. So wie es sich in der russischen Balletttechnik gehört, machte ich jeden Tag hunderte Pliés und Tendus und Grands Battements und verstand absolut nicht, was dieser schmerzhafte Drill mit dem geträumten Pas de deux mit Svebor (damaliger Startänzer an der Zagreber Oper) zu tun haben sollte. Außerdem war der rosa Traum vom Ballet bald farbenblind geworden - zwecks Gleichheit mussten wir schwarze Trikots und weiße Strumpfhosen tragen. Und anders als bei meiner Schuluniform gab es hier kein Schummeln. Meine Eltern versuchten es einmal, es endete aber in einem traurigen Fiasko. Sie waren in Wien gewesen und hatten mir dort ein schwarzes Trikot mit einem Mini-Tutu gekauft. Und rosa Strumpfhosen. Ich trug diese nichtgleichen Sachen genau ein einziges Mal. Die Lehrerin rief gleich nach der Stunde meine Mama an. Sie erklärte, dass man unter dem Tutu meine Hüften nicht sehen konnte. Das bedeutete: zurück in die schwarz-weiße Uniform. Ich wurde wieder gleich.

Treue und ehrliche Freunde

Das einzige Mal, das ich gerne gleich war, war, als ich zu Titos Pionieren aufgenommen wurde. Das passierte in der ersten Klasse, also mit sechs Jahren. Wir mussten einen Eid auswendig lernen, in dem wir auf die Gleichheit und Brüderlichkeit schworen und auf die Ideen, für die Tito gekämpft hatte. Wir mussten auch schwören, dass wir brav lernen und arbeiten werden, unsere Eltern und Ältere und alle Menschen, die Freiheit und Frieden wollen, respektieren werden. Und dass wir immer treue und ehrliche Freunde sein werden. Wir trugen weiße Blusen (ausnahmsweise hatte ich keine Rüschen, wahrscheinlich hatte die Lehrerin meine Mama vorgewarnt), dunkelblaue Röcke/Hosen und weiße Strümpfe. Nachdem wir den Eid brav rezitiert hatten, bekamen wir unsere blauen Kappen mit rotem Stern, rote Tücher und glänzende rote Pionierausweise. Wir waren von Stolz erfüllt! Bald danach tunten Mama und ich meinen Stern mit rotem Nagellack. Ich kann mich nicht mehr erinnern, warum. Vielleicht war er uns nicht rot genug. Oder er war zu gleich.

Die aufregendste Zeit meiner Kindheit in Titos Jugoslawien war das Jahr, in dem wir Energie sparen mussten und mehrmals in der Woche der Strom abgeschaltet wurde. Das war fantastisch! Mein Papa kaufte mir eine coole schwarz-gelbe Taschenlampe, die in die Schultasche reinpasste. Es war ein unvergessliches Abenteuer, mit meiner Nachbarin Ivana nach der Schule durch stockdunkle Straßen nach Hause zu gehen. Und das finstere Stiegenhaus bis in den vierten Stock nur mit dem kleinen Licht aus der Lampe! Endlich konnten wir unseren Pionier-Geist beweisen. Zuhause warteten meine Eltern, umhüllt von warmem Licht aus der Petroleumlampe und geheimnisvoller Stille. Diese Ruhe war unvergesslich. Kein Fernseher. Was nicht so schlimm war: Es gab sowieso nur einen einzigen Zeichentrickfilm am Tag, und ohne den konnten wir gut leben. Aber, was für meinen Vater wirklich schlimm war, keine Musik aus seiner Hi-Fi-Anlage. Es gab keine Ablenkungen. Es war gut.

Unsere größte Freude waren die Rollerskates, die wir immer anhatten, wenn wir nicht in der Schule oder im Ballett waren. Auch Gumi-Gumi, ein zwei Meter langes zusammengeknotetes Gummiband, mit dem wir zu dritt oder in Teams spielten. Zwei Mädels hielten das Band, und eine oder mehrere sind in streng geregelten Choreografien drübergehüpft. Dann gab es natürlich die Barbie, die man im Ausland kaufen musste und an der sich zeigte, wer gleich und wer gleicher war. Ich war gleicher, weil ich zwei Barbies, einen Ken und einen Barbie-Koffer hatte. Aber noch aufregender waren Stifte, Radiergummis und Blocks mit "Hello Kitty" oder "Little Twin Stars" . Diese Sachen waren so anders, so bunt und so speziell, dass wir bei jedem neuen Bleistift die glücklichsten Momente unserer Kindheit erlebten. Wir liebten sie, weil sie rar und unerreichbar waren. Man konnte sie nur im Ausland kaufen. Außerdem waren sie für unsere Verhältnisse teuer. Daher brauchten wir nur ein paar von diesen Sachen, um uns wie Königinnen vorzukommen.

1980 starb Tito. Wir hörten die Nachricht aus Papas riesiger Hi-Fi-Anlage, und die Sirene auf der Fabrik in der Nachbarschaft heulte hysterisch. Die gleiche Sirene schickte uns elf Jahre später in den Keller und holte uns nach ein paar Stunden voller Schrecken wieder heraus. Zwei Stunden nachdem ich diesen Bombenalarm zum letzten Mal im Leben gehört hatte, saß ich im verdunkelten Zug nach Wien. "Nur für ein paar Tage, bis sich die Lage beruhigt." Das war vor 18 Jahren, und Wien ist jetzt mein Zuhause.

Tito wurde im "Haus der Blumen" beerdigt, was zu schön klang, um mit dem Tod in Verbindung gebracht zu werden. Für uns war er aber immer noch lebendig. Er schaute immer noch in den Klassenzimmern auf uns herab.

1989 fiel die Mauer. Das ging uns aber nichts an. Seit dem Streit zwischen Tito und Stalin 1948 gehörte Jugoslawien nicht mehr dem kommunistischen Lager an. Obwohl sozialistisch, war Jugoslawien blockfrei und viel liberaler als der Ostblock. Die Grenzen waren offen, und mit unserem Reisepass konnte man ohne Visum in beide Richtungen, nach Westen und nach Osten, reisen. Wir hatten ein gemütliches und sicheres Leben. Lange Sommerurlaube am Meer, Reisen nach London und Paris. Und jedes Jahr Ski fahren in Österreich.

Papa war seit seiner Kindheit ein leidenschaftlicher Skifahrer, und Mama und ich mussten mitmachen. "Mussten" , weil es nicht immer nur lustig war. Dieser Urlaub kostete nämlich viel hart erspartes Geld und musste daher optimal ausgenutzt werden. Wir waren immer die Ersten und immer die Letzten auf den Liften. Wir fuhren bei jedem Wetter. Nebel, Schnee, minus 20 Grad? Nema problema! Mit drei stand ich schon auf kleinen roten Plastikski zwischen Papas Beinen. Und mit sieben gewann ich meine erste goldene Medaille in Fügen. Keine Ahnung, wo Janica Kostelić damals war. Ich glaube, sie war noch nicht geboren.

Die lange und mühsame Fahrt mit unserem roten Škoda hat sich immer gelohnt. Österreich war ein Wunderland. Es war das Land der mit weißem Schnee bedeckten Berge, der Frittatensuppe, Überraschungseiern, Mini-Kuhglocken und der riesigen Kellnerinnen, die Puppenkleider trugen. Ah, diese Puppenkleider! Genauso eins hatte die Frau in meinem Wetterhaus. Meine beste Freundin hatte eine Puppe mit diesem Kleid. Und es gab sogar ein Foto von meiner Oma, als sie jung war und so ein Puppenkleid trug. Ich liebte diese Puppenkleider. Sie stammten aus einem Märchenland, genau wie Tutus und Prinzessinnenkleider (es dauerte Jahre, bis ich lernte, dass das eigentlich Hochzeitskleider sind - meine Mutter heiratete in Jeans).

Erst als ich mit 17 nach Österreich übersiedelte, verstand ich, was diese Puppenkleider eigentlich waren. Mit 19 bekam ich dann endlich ein Dirndl und war überglücklich. Leider war mir schon beim ersten Blick in den Spiegel klar, dass aus mir nie eine echte österreichische Kellnerin in einem Skigebiet wird. Ich bin zu zierlich, und mein Busen ist definitiv zu klein. Immerhin war es schön zu wissen, dass einige Träume doch wahr werden - ein Tutu werde ich nie haben. Und zum Hochzeitskleid will ich mich lieber nicht äußern.

Und so besitze ich jetzt ein Dirndl, aber die Pionierkappe und das rote Tuch habe ich wohl verloren. Was Marschall Tito nur dazu sagen würde? Vielleicht lacht er gerade darüber. Und zwar zusammen mit dem Kaiser Franz Joseph. (Ana Tajder, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 02./03.01.2010)