Die Händlergesellschaft meidet das Tragische. Wo anschwellende Prosperität und unablässige Profite locken, blieb lange kein Platz für ein Weltbild, das den Schrecken des Scheiterns zu begreifen sucht. Ob das jetzt anders wird? Zweifel sind angebracht. Noch überstrahlt der Glanz des tollen Geldes die Wandzeichen der Gefahr. Noch schlägt Raffgier die Furcht aus dem Feld. Verlust ist noch keine "Realangst der Epoche" , wie der deutsche Literaturwissenschafter Karl Heinz Bohrer das nennt.

Das Theater indes, wie es uns seit den Griechen überliefert ist, geht auf die Lust am Mimus und die Angst vor dem Unerklärlichen, vor Schicksal, Leid, Gewalt und Tod zurück. Und mit dem Tod, auch mit Leiden, Qualen, Unglücksfurcht und -bannung ist, sofern man diese elementaren Erfahrungen der Menschheit ernst zu nehmen gedenkt, auf dem Markt des Frohsinns und der Zerstreuung kein Geschäft zu machen. So blendete denn der euphemistische Optimismus unserer Händlergesellschaft lange Zeit die Einsicht in Tragik und bedrohliche Sinnlosigkeit eilfertig aus dem Bewusstsein aus: Für eine dramatische Binsenwahrheit, dass die lebensformenden und -zerstörenden Kräfte außerhalb des Herrschaftsbereichs von Vernunft oder Gerechtigkeit liegen könnten, ist dort kein Platz.

Steht also auf dem Theater unwiderruflich jener "Tod der Tragödie" bevor, wie ihn der aus Wien stammende Kulturhistoriker George Steiner in seinem gleichnamigen Buch Anfang der Sechzigerjahre noch eher literaturgeschichtlich als mögliche Entwicklung beschworen hatte?

Gestundete Zeit

Der tägliche Ansturm der Medien und der Moden, die Trance im Kollektiv der Konsumgesellschaft sind wie geschaffen, darin unterzutauchen, das Ich und seine Schicksalsbedingtheit zu vergessen. Das Theater freilich, das sich der überlieferten und neu zu ergründenden Wahrheit menschlicher Grunderfahrungen verpflichtet weiß, kann den großen Erkenntnisschub des frühen europäischen Menschen nicht vergessen.

Es weiß, dass das Ich sich seiner eigenen Vergänglichkeit bewusst bleiben muss. Dass Verlust, Schmerz, Einsamkeit, die gestundete Zeit als konstante tragische Lebenstatsachen ebenso nach Ausdruck drängen wie Liebe, Glück und vitalistischer Überschwang. Und dass das Individuum seine Freiheit nur begreift, wenn es deren Last ebenso zu ertragen vermag wie deren Lust. "Ich, mit Willen, rede nur / Vor Wissenden. Vor Ahnungslosen weiß ich nichts", verkündet der Wächter gleich zu Beginn von Aischylos' Orestie die Ausgangslage.

Große, verklungene Worte inmitten einer kleinräumig gewordenen Realität? Vergebens beschworenes Pathos eines Freiheitsentwurfs, der den Menschen heute weit weniger plagt als die Sorgen um Arbeitsplatz, Altersversicherung, Kreditrückzahlung? Die Frage allein verrät schon ihre Kurzatmigkeit. Das zeitgenössische Drama, soweit es seinen Rang behauptet, kümmert sich längst und ausführlich um die Diskrepanzen zwischen erwünschtem Menschenbild und seiner oft elenden Übermalung durch die Wirklichkeit.

Es enthüllt die Tragik zerstäubter Hoffnungen ebenso wie den Verlust von Wahrheit in Beziehungen, in Selbsterkenntnis oder gesellschaftlichen Rollenbildern und Konventionen. Und es konstatiert dabei längst auch ganz selbstverständlich den Schwund des Gefühls für die Tragödie: als Erosion einer Extremform von individuellem Anspruch.

Aber damit das zeitgenössische Theater ein wahrhaftiges Forum der dramatischen Gestaltung von Freuden und Schmerzen, Glücksverheißungen und -enttäuschungen bleiben kann, braucht es auch das Repertoire des großen überlieferten Dramas, der Tragödie. Und sei es nur zu dem Zweck, dem Zeitgenossen seinen Verlust, die Möglichkeit schmerzhaft tiefer Selbsterkenntnis, vor Augen zu führen. So vermag das Theater nicht nur dem vorherrschenden Kult der tumben Gegenwartsvernarrtheit und seiner marktgesteuerten Jugendidolatrie entgegenzuwirken: Es schärft seine stets benötigte Widerstandskraft gegenüber jeglicher Ideologie. Und die heißt eben zurzeit: Alleinherrschaft der Ökonomie.

Eigenmacht der Sprache

Karl Heinz Bohrer verwirft als leidenschaftlicher Antihegelianer alle historischen, gesellschafts-politischen oder kunstsoziologischen Einschätzungen der Tragik, wie sie etwa Peter Szondi oder eben George Steiner vorgebracht haben. Er setzt stattdessen alles auf die Eigenmacht der durch Sprache hergestellten Imagination. In seiner jüngsten Untersuchung über Das Tragische rekapituliert er zwar im Nachwort die Tragikabstinenz der Nachkriegsgesellschaft. Doch der antiken Tragödie attestiert der renommierte deutsche Literaturwissenschafter und Essayist kraft ihrer "Ästhetik des Schreckens" eine zunehmende Aktualität. Bohrer interessiert sich, wie von ihm zu erwarten war, nahezu ausschließlich für die Kategorie des Gewalt- und Grausamen in der attischen Tragödie, für das Furchtbar-Schöne und seine Epiphanie fern der moralischen, sozialen, psychologischen oder geschichtstheoretischen Bewertungen, sozusagen l'art pour l'art.

Im frenetischen Akt des Erscheinens, meint er, "verschwindet Bedeutung hinter der Erscheinung, die dadurch umso mehr zum Indiz von Bedeutung wird". Es ist eine Bedeutung, die sich vollständig in die phänomenologische Gegenwärtigkeit der sinnlichen Welt vertieft, transformiert in den "Großen Stil" : "Der große Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt" , postulierte schon Bohrers Stichwortgeber Nietzsche.

Im Fall der Gewalt im antiken Drama geschieht das durch die im Zuschauer metaphernsprachlich geweckte "Erwartungs-Angst", die überfallsartig vom "Erscheinungs-Schrecken" des dargestellten Vorgangs gefolgt wird. Beides sind - "funkelnd in ihren semantischen Elementen", wie Bohrer sie beschreibt - Wirkkräfte jenes Theatermagiers namens Sprachkunst, der getreu der Aussage Alfred Polgars "wirklich zaubert" .

Man würde sich Bohrers vielschichtige Studie in die Hände jener wachsenden Zahl von Regisseuren wünschen, die mangels Vertrauen in die situative Wucht der antiken Tragödie und in die erschütternde Kraft der Sprache ihre Tragik-Interpretationen mit dem Müll belangloser Alltagsinhalte zu illustrieren suchen. Und die nicht daran glauben können, dass das Archaische das Modernste und das Tragische das Wahrhaftigste zu sein vermag. (Oliver vom Hove, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 02./03.01.2010)