Mangelnde Spendenfreudigkeit, Ebay als harte Konkurrenz: Elisabeth Mimra, Leiterin der Caritas-Lager "Carla", trotzt der Krise. Denn täglich kommen rund 1000 Kunden, die auf günstige Ware angewiesen sind.

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Standard: Wir treffen einander im "Inigo", einem Lokal in der Wiener City, das Sie mitaufgebaut haben. Was ist daran wientypisch?

Mimra: Das ist ein Lokal, das gut zu Wien passt, es ist sehr gemütlich, man kann gut essen und trinken und fühlt sich wohl - ein ganz normales, typisches Wiener Lokal.

Standard: So normal auch wieder nicht. Hier werden Langzeitarbeitslose ausgebildet. Es gibt nicht viele solcher Lokale in Wien.

Mimra: Es wird zu wenig gegen Arbeitslosigkeit getan, das ist wahr. Die Arbeitslosenzahlen steigen wieder, aber die Schulungsprogramme, die bewilligt werden, sind oft viel zu kurzfristig. Meist laufen sie nur sechs Monate - das ist viel zu kurz, um die vielen Probleme zu lösen, die lange Arbeitslosigkeit mit sich bringt.

Standard: In Ihrem Beruf haben Sie viel mit armen Menschen zu tun: Wie gehen die Wiener um mit den Armen ihrer Stadt?

Mimra: Wie überall - es wird viel weggeschaut, ignoriert und negiert. Viele Menschen ertragen in ihrer heilen Welt nicht, dass es anderen schlecht geht. Dazu passt ganz gut, dass die Behörden die Armen von stark frequentierten öffentlichen Plätzen verbannen. Dann muss die Öffentlichkeit nicht mehr dort hinschauen, wo es wehtut, und sich erinnern, dass das jedem passieren kann.

Standard: Was meinen Sie konkret?

Mimra: Ist Ihnen aufgefallen, dass öffentliche Bänke immer kleiner werden? Das hat den Effekt, dass Obdachlose darauf nicht schlafen können - das heißt, sie müssen woanders hin - dorthin, wo man sie nicht so gut sehen kann.

Standard: Sie leiten "Carla", das Caritas-Lager, früher haben Sie das "Inigo" geführt. Davor hatten Sie ein eigenes Lokal. Was bewog Sie, gemeinnützig zu arbeiten?

Mimra: Ich habe immer das Gefühl gehabt, das kann es noch nicht gewesen sein. Ich habe, als mein Sohn noch klein war, auch Teilzeitjobs angenommen, die allesamt nicht sehr befriedigend waren. Da ist dann die Idee in mir gewachsen, dass ich mich sozial engagieren möchte.

Standard: Was ist der größte Unterschied zur Privatwirtschaft?

Mimra: Es geht sehr viel mehr darum, wie die Dinge gemacht werden. Natürlich muss man auch seine Ziele erfüllen, aber es geht immer mehr um die Menschen, mit denen man zusammenarbeitet - und dass die auch etwas davon haben, dass sie beschäftigt sind.

Standard: Was meinen Sie?

Mimra: Zum Beispiel würde eine ungelernte Hilfskraft in einem gastronomischen Betrieb gekündigt, wenn sie dreimal zu spät kommt oder sich zu Gästen nicht ganz korrekt benimmt. In einem sozialökonomischen Betrieb wie dem "Inigo" gibt es Feedback, man lernt mit den Leuten.

Standard: Mussten Sie auch hier schon einmal Leute rauswerfen?

Mimra: Natürlich. Manchmal sind Klienten noch nicht so weit, und man sieht sie zwei-, dreimal wieder, bis es klappt mit einem Job, den sie dann auch behalten. Zu uns kommen erwachsene Menschen, die aber oft schon von zu Hause nicht das Rüstzeug bekommen haben, um mit schwierigen Alltagssituationen umzugehen. Nicht jeder kann von heute auf morgen lernen, wie man mit einer schwierigen Situation umgeht.

Standard: Wer spendet "Carla" Kleidung oder Möbel?

Mimra: Das ist unterschiedlich. Es kommt die Pensionistin, die sich nur schwer von den Anzügen ihres verstorbenen Mannes trennen kann, die Mutter, die Kleidung ihrer Kinder bringt, die zu klein geworden ist, oder die Frau, die es sich leisten kann, ein Designerstück nur zweimal anzuziehen.

Standard: Sie nennen nur Frauen.

Mimra: Die Spender sind sehr häufig Frauen, das stimmt. Aber es kommen auch Männer, die bringen dann die größeren Stücke.

Standard: Wie viele Kunden haben Sie im Durchschnitt?

Mimra: Es kommen täglich mehrere hundert in jedes der zwei "Carla" in Wien - schätzungsweise haben wir pro Tag 1000 Kunden.

Standard: Laut Eurostat lebten 2008 in Österreich 1.018.000 Menschen, die als armutsgefährdet gelten, 492.000 sind manifest arm. Sie können sich nicht leisten, bei Bedarf neue Kleidung zu kaufen, die Wohnung zu heizen oder eine medizinische Behandlung zu bezahlen. Hat sich das 2009 verschärft?

Mimra: Durchaus. Wir merken das am enormen Ansturm bei unserer Gratiskleiderausgabe, aber auch bei unseren stark verbilligten Bekleidungsstücken. Da merkt man auch, dass sich die Schichten verschieben. Leute, die früher einen ganz normalen Job gehabt haben, mussten Arbeitszeitverkürzungen in Kauf nehmen und verdienen nun weniger - oder sie haben ihre Arbeit überhaupt verloren. Plötzlich sind sie auf uns angewiesen, weil sie es sich nicht mehr leisten können, von der Stange zu kaufen.

Standard: Laut Statistiken sind Alleinerzieherinnen und Migranten am meisten armutsgefährdet. Entspricht das Ihren Beobachtungen?

Mimra: Auf jeden Fall. Menschen mit Kindern müssen periodisch, zu Schulbeginn oder wenn die Kinder wachsen, viel kaufen. Schule und Kindergarten kosten sehr viel, Kinder brauchen Förderung und Beschäftigung.

Standard: Was halten Sie von einem "Transfer"-Konto für Sozialleistungen, wie es Vizekanzler Pröll vorgeschlagen hat, damit Missbrauch ausgeschaltet wird?

Mimra: Ich halte es für menschenverachtend, wenn über Leute, die ohnehin nichts mehr haben, so gesprochen wird, als lägen sie in der sozialen Hängematte. Das machen nur Menschen, die keine Ahnung von der Lebensrealität anderer Menschen haben und noch nie in der Situation waren, sich zu überlegen, ob sie heute lieber essen wollen oder einheizen. Es gibt tatsächlich Menschen, die im Supermarkt stehen und nicht wissen, wie sie ihren Kindern Essen kaufen sollen. Auf der anderen Seite werden ganz locker hunderte Millionen Euro bewegt, um Banken, die Geld verschwendet haben, zu retten. Das ist eine große Ungeheuerlichkeit.

Standard: Laut Berechnung der Armutskonferenz ist in Österreich Geld sehr ungleich verteilt. Das reichste Zehntel der Bevölkerung hält 54 Prozent des Geldvermögens. Wo sehen Sie Ungleichheit?

Mimra: Die Chance, aus sozial benachteiligten Schichten herauszukommen, ist in Österreich nicht wahnsinnig groß. Wenn die Eltern nicht dafür sorgen, dass die Kinder in gute Schulen kommen, ist sozialer Aufstieg kaum möglich. Die Fördermöglichkeiten sind sehr schlecht für sozial schlechtergestellte Familien - und das betrifft auch Migrantenfamilien. Es ist schade, immer wieder zu sehen, dass aus vielen Menschen etwas anderes hätte werden können, wenn sie in entsprechendem Alter gefördert worden wären. Österreich vertut sich da viele Chancen. Für die Förderung der Kinder, ihrer Bildung, müsste viel mehr getan werden.

Standard: Die Spendenfreudigkeit der Österreicher hat in der Krise abgenommen. Sehen Sie das auch?

Mimra: Wir arbeiten im Sachspendenbereich, da merken wir, dass sich die Leute schon gut überlegen, bevor sie uns etwas geben, ob sie es nicht doch im Internet verkaufen sollen. Es ist spürbar, aber bis jetzt noch nicht gravierend.

Standard: Ist Ebay Konkurrent?

Mimra: Absolut. Genauso wie Willhaben.at und alle derartigen Plattformen. Weil es so einfach geht, Überflüssiges loszuwerden.

Standard: Sie arbeiten für eine kirchliche Institution - stört es Sie, dass Frauen in der katholischen Kirche nie ganz nach oben kommen, weil die höchsten, die geistlichen Ämter nur Männern vorbehalten sind?

Mimra: Die Caritas-Wien ist da ein bisschen anders. Bei uns hat man gute Möglichkeiten, hinaufzukommen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Frau so weit kommt wie beispielsweise Franz Küberl.

Standard: Aber so weit wie Michael Landau können Sie nie kommen.

Mimra: Der ist ja auch Priester und ich nicht.

Standard: Darauf wollte ich hinaus.

Mimra: Das stört mich aber gar nicht. (Petra Stuiber, DER STANDARD Printausgabe, 2./3.01.2010)