Odysseus (Jakob Schneider) hält seinen übergeschnappten Sohn Telemach in den Armen, vor ihm ringt seine Frau Penelope (Monika Bujinski) um Fassung: Der Tod ist ein Meister aus Ithaka.

Foto: Horn

Dortmund - Eigentlich kann der Insel Ithaka gar nichts Schlimmeres passieren als die Heimkehr ihres angestammten Königs. Odysseus, der "erfindungsreiche", trägt in Christoph Ransmayrs raffinierter Überschreibung von Homers Heimkehrerepos die Züge eines Psychopathen. Odysseus, Verbrecher lautet die polemische Reihenfolge der Titelwörter in Ransmayrs zweitem Bühnenstück.

In diesem wird der notorische Fernreisende auf einer Woge aus Müll und wertlosen Waffen an den heimatlichen Strand gespült. Ithaka, die einst blühende Insel, ist während seiner zwanzigjährigen Abwesenheit zu einem Schwellenland verkommen: "Strandläufer" - unter ihnen die Göttin Athene - teilen die angeschwemmten Trödelstücke unter sich auf. Ein Kartell aus Freiern, das sich seit Ewigkeiten um Penelopes Gunst bemüht, wirtschaftet in die eigene Tasche. Mangel und moralischer Bankrott blühen - es herrscht Nachkrieg, wohin des Nachdichters Auge schweift.

So weit die mythologische Großwetterlage nach Ransmayr, sehr frei nach Homer. Und dann passiert doch noch ein kleines Wunder: Im Schauspiel Dortmund, wo Intendant Michael Gruner die Uraufführung des Stücks zum Abschluss der Odyssee Europa famos verwaltet hat, sitzt vor einem gleißend hellen Bühnenkubus, halb seitlich versetzt, ein Chor von Sängern: eine Art Schubert-Liedgesellschaft in wenig kleidsamen Feinrippunterhosen.

Heldenmusik nach Schubert

"Am Brunnen vor dem Tore", dringt es wispernd aus den Kehlen. Es dauert ein Weilchen, bis man begreift, dass hier die Toten am Wort sind: alle diejenigen, die Odysseus, unter Zuhilfenahme von Schwert und trojanischem Holzpferd, in den Hades befördert hat.

Mit einer szenischen Spaltung gelingt es Gruner, Ransmayrs wenig erbauliche Kernbotschaft freizusetzen. Der "weitberühmte Held" , der "listenreiche Odysseus" (eigensinnig gespielt von Jakob Schneider) ist ein anonymer Tragödienheld: Das Gesicht unter einer papierenen Maske halb versteckt, wuchtet er seinen schweren Körper an die Wände der Schachtel. Duckt sich weg, weil er die Chorliedsänger - die nur er wahrnimmt - zu Recht als Ankläger fürchtet.

Trojas Bezwinger, der es mit dem Heimkehrerfleiß nicht übertrieben genau nahm, verkörpert aber auch das moderne Bewusstsein: Klug und jederzeit haftbar, begräbt er sein Tun unter einem Wust von Begründungen. Ransmayr bereichert die DNS der europäischen Kultur, die Schicksalsgläubigkeit des Mythos, um die Errungenschaft des Gewissens.

Seine Figuren sind daher am ehesten als Übergangsphänomene zu verstehen: Als Kinder einer neuen, noch unbegriffenen Zeitrechnung müssen sie auf hohen Kothurnen balancieren. Sie stehen auf Stelzen und übersetzen ihren Jammer in eindringliche Gebärden: so Penelope (Monika Bujinski), die die Handflächen hoch in die Luft streckt, als wäre ihr Ithaka ein luftdicht abgeschlossenes Gefängnis.

Gruners Wiedergewinnung der Antike ist an Axel Mantheys Bildertheater geschult: an den Pappmachéköpfen des weinenden Ödipus. Vor allem aber hat er Christoph Ransmayr zu einer triumphalen Wiedergeburt als Dramatiker verholfen: Dessen schmiegsame Sprache, das fein ausgehörte Idiom eines Grenzgängers, erweist sich als ebenso welthaltig wie an der Vorlage des Hexameters geschult. Ein bedeutender Erfolg, da mit Odysseus' blutiger Heimkehr auch ein ehrgeiziger Veranstaltungszirkel im Rahmen von RUHR.2010 zu Ende ging.

Die Idee von Odyssee Europa ist so einfach wie bestrickend: Die sechs führenden Schauspielhäuser der Ruhr-Region heben jedes für sich ein komplett neues Stück aus der Taufe. Als Vorwurf dient den internationalen Autoren - neben Ransmayr u. a. Péter Nádas, Roland Schimmelpfennig, Enda Walsh oder Grzegorz Jarzyna - das schimmernde Epos Homers: das ewig gültige Manifest menschlicher Unbehaustheit.

Odyssee mit "Xynthia"

Anreisende Kulturjahrbesucher sprangen, von nordrheinwestfälischen Fremdenführern freundlich geleitet, ins Kielwasser des Kriegsheimkehrers Odysseus. An zwei aufeinanderfolgenden Tagen wurden in rasender Eile die Bühnen in Essen, Bochum und Oberhausen, Mülheim/Ruhr, Moers und Dortmund abgeklappert. Busse und Kanalfähren sorgten für homerische Übersetzungsverhältnisse in mausgrau kolorierten Brach- und Stadtlandschaften. Der bis an den Rand aufgerissene Windschlauch von Gott Äolus aber entließ mit "Xynthia" einen wahren "Killer-Orkan" .

Die Krone des blinden Sängers Homer gebührt, von Ransmayr abgesehen, dem polnischen Autor und Regisseur Jarzyna im Essener Grillo-Theater. Auch sein Projekt, die Szenen-Installation Areteia, wird vom Gedanken an Odysseus' misslingende Heimkehr genährt.

Jarzyna zertrümmert den Mythos, flutet ihn mit Bildern und Tönen. Aber ebenso ernst nimmt er die zweischneidige Frohbotschaft, dass der Ausbruch des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit ein furchtbares Opfer heischt.

Auf einer kargen Bühnenlandschaft mit Holzlamellen als Sichtblenden arbeiten die Götter an der Abschaffung ihrer Unsterblichkeit: Marsbewohner mit schwarzen Topffrisuren, die sich verzerrt auf Polnisch unterhalten, entlassen die Menschen in die Freiheit. Am Ursprung jeder Kulturleistung steht der Vatermord. So erwürgt Odysseus den Laertes - Sohn Telemach wird sich an ihm vergehen müssen, um frei zu sein.

Homer ist die Klammer. Doch jedes Aufbegehren gegen ihn setzt auch das zutraulichste Ungeheuer frei, das es gibt: die Poesie. (Ronald Pohl aus Dortmund, DER STANDARD/Printaugsabe, 02.03.2010)