Es kommt vor, dass ein Buch, dass seine Autorin übersehen wird. Woran mag es im Falle von Sylvie Schenks Roman Parksünder liegen? Am schauderhaften Umschlagbild? Am französischen Schauplatz? Dem Deutschen Mirko Bonné hat es nicht zum Nachteil gereicht, dass er sich in seinem jüngsten, mit Parksünder durchaus vergleichbaren Roman Wie wir verschwinden von Albert Camus' tödlichem Autounfall in Villeblevin hatte inspirieren lassen. Die These sei gewagt: Wäre dieses hervorragende Buch in einem prominenten deutschen Verlag erschienen, es wäre längst in aller Munde. Parksünder erzählt die Geschichte eines französischen Karrierebeamten, der eines Tages in ein Mahlwerk persönlicher und kollektiver Katastrophen gerät, das sich mit der denkbar harmlosesten aller Unpässlichkeiten ankündigt: mit einem Schnupfen. Der Enddreißiger Rémi Signol ist ein Hagestolz, der nur seinen Kater Pompidou an sich heranlässt, ein Verfechter der Ordnung und des Leistungsgedankens, der alles, besonders aber die eigenen Gefühle, eisern im Griff hat.

Die Verkühlung bietet dem Intimus der Bildungsministerin eine nicht unwillkommene Gelegenheit zur Flucht, sind doch gerade schwierige Verhandlungen mit renitenten Studenten zu führen. Rémi hat Fieber, "genug, um das zwielichtige Gefühl des Besiegten zu empfinden, zu wenig, um das Denken abzuschalten" , und so akzeptiert er das Bett als den ihm angemessenen Ort.

Kaum je hat man übrigens ei-ne so furchterregend plastische Schilderung der Symptomatik des gemeinen grippalen Infekts gelesen. Und während die Krankheit wie eine Woge über Rémi zusammenschlägt, geschehen die wirklich erschütternden Dinge, von denen er erst am nächsten Morgen erfährt: Seine Mutter stirbt, die Studentenproteste wachsen sich zu Straßenschlachten aus, ein Sturm tobt durch Paris, und seine (dank seiner Zögerlichkeit) platonische Freundin wird von einem herabfallenden Dachziegel so schwer verletzt, dass sie ins Koma fällt.

Sylvie Schenk beschreibt nun, prägnant, mit großem Feingefühl und ohne einen falschen Ton, die sachte Wandlung eines Zynikers, die zu spät kommt - und auch wieder nicht. Rémi ist kein Versager, kein komischer Kauz à la Genazino, sondern einer, der so eifrig damit beschäftigt war, im Kampf um den Aufstieg seine ländlichen Wurzeln abzustreifen, dass er seine Familie gleich mitabgestreift und sich hinter seinen Prinzipien verbarrikadiert hat. Die Eltern waren von der 68er-Bewegung als Aussteiger in die Alpen gespült worden: ein Generationskonflikt der etwas anderen Art.

Die Beziehung zur lesewütigen, ebenso strengen wie flatterhaften Mutter war seit langem gestört: Rémi und seine Schwester Marlène konnten ihr ihre Liebhaber nicht verzeihen, sie beantworteten ihre vielen Briefe nicht. Etliche dieser Briefe, hartnäckige Versuche, sich ihren Kindern verständlich zu machen, sind von Beginn an in die Erzählung montiert. Sie zeigen, dass die Mutter schon lange weiß, was ihr Sohn gerade erst ahnt - dass er so, wie er lebt, nicht glücklich werden kann: "Nur für den Menschen hat die Leere ein Gewicht, tonnenschwer. Es entsprach der Masse des entflohenen Glücks, ein tumorartiges Gefühl."

Als Parksünderin offenbart sich die Mutter gleich im ersten Brief: "Rückwärtseinparken ist ein diabolisches Unternehmen. Man steckt die Nase ins eigene Unvermögen. (...) Nicht grundlos wird Nach-hinten-Schauen in alten Sagen bestraft." In ihrem Bergdorf hat der Nachbar sie einen "Parkplatzkrieg" verwickelt. Und einem letzten Parkplatzwechsel vor dem Haus seiner Mutter verdankt Rémi schließlich eine folgenschwere Unannehmlichkeit, ehe das furiose Finale um das Begräbnis der Mutter beginnt.

Dass es der Deutschfranzösin Sylvie Schenk gelungen ist, aus der wenig aufregenden Konstruktion - ein Sohn reist zum Begräbnis der Mutter, deren Geschichte sich aus Briefen erschließt - einen so aufregenden, gerade in seiner Härte bewegenden Roman zu machen, grenzt ebenso an ein Wunder wie der Witz in einem Buch, in dem es wahrlich an Dramen nicht fehlt: das ideale Geschenk für Mütter mit Humor. Als die Familie Rémi um Vorschläge für eine Grabinschrift bittet, antwortet der furchtlos mit einem Zitat der Verstorbenen: "Endlich geparkt." (Daniela Strigl, DER STANDARD/Printausgabe 27.3./28.3.2010)