Eine Hommage in Anekdoten als Leitfaden und Lehrstück für gegenwärtige und künftige Politikergenerationen.

Es ist wohl nicht möglich, in einem kurzen Beitrag eine einigermaßen sinnvolle und der Persönlichkeit gerecht werdende Beurteilung vorzunehmen. Es soll daher ein anderer Zugang gewählt werden und einige Weggefährten indirekt zu Wort kommen.

Zu Ehren Helmut Kohls lud der deutsche Bundespräsident Prof. Dr. Horst Köhler am 8. Dezember 2009 viele dieser ehemaligen europäischen Mitstreiter nach Berlin ins Schloss Bellevue zu einem Abendessen. Jacques Delors, Felipe Gonzales, Wladislaw Bartoszewski, Jean-Claude Juncker, Theo Waigel, Hans Dietrich Genscher, Roman Herzog, Miklos Nemeth und viele andere kamen, um Helmut Kohl 20 Jahre nach dem »magischen« Jahr 1989 die Reverenz zu erweisen. Während des Essens bat der deutsche Bundespräsident die Gäste, anhand von persönlichen Anekdoten ein Bild Helmut Kohls zu zeichnen. Einige dieser Erzählungen – wenn auch subjektiv und keineswegs die ganze Breite des Jubilars zeichnend – waren für mich außerordentlich treffend und persönlich sehr berührend. Sie seien hier wiedergegeben, als Leitfaden und Lehrstück für gegenwärtige und kommende Politikergenerationen.

1. An Helmut Kohl besticht zunächst die unerlässliche Kenntnis der großen geschichtlichen Zusammenhänge: Kohl ist Historiker mit einem umfassenden Wissen über gesellschaftliche und politische Ereignisse, Strömungen, Irrtümer. Nur so ist sein tiefes Verständnis für die Sensibilitäten der Nachbarn erklärbar.

Polen, Frankreich, Luxemburg, Österreich – ein deutscher Kanzler muss wissen, was an geschichtlichen Belastungen mitschwingt, wenn er als Repräsentant des größten und wirtschaftlich stärksten europäischen Staates auftritt, spricht und verhandelt. Gerade die kleinen und mittleren Staaten sahen in Kohl immer einen Anwalt ihrer Anliegen. Der luxemburgische Ministerpräsident Jean Claude Juncker brachte es in seiner Anekdote launig auf den Punkt. Schon beim ersten Zusammentreffen habe ihm Kohl das Du-Wort angeboten, später nannte er ihn immer freundschaftlich "Junior". Immer hörte er genau hin, wenn der weit Jüngere etwas zu sagen hatte (welch ein Unterschied zu den missglückten und peinlichen Sagern aus deutschem Ministermund über Indianer und Soldaten in der Steueroasendebatte...).

2. Ebenso wichtig scheint mir Helmut Kohls Fähigkeit zum Erfassen des "kairos" , des richtigen Augenblicks. Horst Köhler zitierte im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung das Wort Bismarcks "den Mantel Gottes, der durch die Geschichte weht, zu erkennen" . Kohl hatte unzweifelhaft diese Gabe und wohl auch den unerschütterlichen Willen, wenigstens einen Zipfel dieses Mantels zu erfassen. So drängte er bei der Währungsumstellung immer wieder auf raschere Entscheidungen und sprach ungeduldig vom engen Zeitfenster, das die Geschichte für die deutsche Wiedervereinigung bereithielte. Prophetische Worte, denn zwischen dem Berliner Mauerfall und dem Moskauer Putsch gegen Gorbatschow im August 1991 lagen nur 22 Monate. Nur weitere vier Monate sollten bis zur Abdankung Gorbatschows am 25. Dezember 1991vergehen.

3. Vertrauen ist ein sehr heikles und kostbares Gut. In der heutigen lärmenden und scheinbar alles offenbarenden Transparenzgesellschaft wird darauf viel zu wenig geachtet. Und trotzdem ist gerade in der dünnen Luft der Spitzenpolitik das Vertrauen unerlässlich. Helmut Kohl hatte in den langen Jahren seiner Amtstätigkeit dieses Vertrauen aufgebaut und nie enttäuscht: mit dem amerikanischen Präsidenten George Bush, mit dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow, und dem französischen Präsidenten François Mitterrand schuf er tiefgehende Vertrauensverhältnisse.

Nur so konnte diese dramatische Hochschaubahn von Ereignissen, Gefühlen, Zusammenbrüchen und Hoffnungen unfallfrei bewältigt werden.

Johannes Ludewig, der engste wirtschaftspolitische Berater Kohls, offenbarte beim Berliner Abendessen ein bemerkenswertes Beispiel dieses Vertrauens zwischen Kohl und Mitterrand: Vor der endgültigen Entscheidung über die Einführung der europäischen Einheitswährung musste auch der Sitz der künftigen unabhängigen Europäischen Zentralbank geklärt werden. Deutschland beharrte auf Frankfurt, Frankreich leistete erbitterten Widerstand. Daraufhin reiste Kohl nach Paris zu einem völlig unergiebigen Gespräch mit Ministerpräsident Edouard Balladur, dann einem Abendessen im Elysee-Palast mit Staatspräsident François Mitterrand. Dieser eröffnete mit den Worten "Ich weiß, warum Sie gekommen sind – Frankreich wird Frankfurt nicht zustimmen, dies wäre gegen unsere eigenen Interessen!" Helmut Kohl blieb gelassen. Man speiste und im Laufe des Essens erläuterte der deutsche Kanzler ruhig und eindringlich, warum Deutschland so sehr auf dem Sitz der Europäischen Zentralbank beharrte. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe es wenig Anlass zu patriotischem Stolz gegeben, nur wenige positiv besetzte Symbole, ausgenommen die D-Mark. Sie aufzugeben und in eine neue gemeinsame Währung Europas einzubringen sei daher etwas völlig Außergewöhnliches, nicht mit den Entscheidungen anderer Teilnehmerstaaten Vergleichbares. Diese Entscheidung sei eben nur mit dem Symbol des Sitzes der EZB einigermaßen aufzuwiegen.

Mitterrand hörte aufmerksam zu, um nach eineinhalb Stunden schlicht festzustellen: "Ich habe nun die Bedeutung dieser Entscheidung für Deutschland verstanden. Ab sofort wird Frankreich Sie in dieser Frage unterstützen.« Ludewig fügte hinzu, dass er nie zuvor oder danach eine solche eindrucksvolle Wendung erlebt habe. Nur das Vertrauen dieser beiden Männer zueinander habe diesen spektakulären Meinungsumschwung ermöglicht. Mitterrand habe erkannt, daß die Sitzfrage für Kohl eine vitale Frage war, zu der es keine rationale Alternative gegeben hätte. Letztlich entschied er im Vertrauen darauf, daß Kohl in einer für Frankreich ähnlich gelagerten Situation genauso im Sinne Mitterrands entscheiden würde, und seine Interessenslage hintanstellen würde.

Hand aufs Herz – können davon nicht viele nachfolgende Generationen von Politikern lernen?

4. Helmut Kohl hatte in seiner Zeit ein wichtiges und mächtiges Hilfsmittel an der Seite: die Europäische Union. Und er Helmut Kohl wusste dieses Instrument "Europa" zu nutzen. Ein Deutschland, das fest in die Union eingebettet war, das voll in eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik integriert war, das einer europäischen Währung angehörte und von großen und kleineren Partnern in der Gemeinschaft wohlwollend begleitet wurde, war möglichen Verdächtigungen aus der Geschichte entrückt. Dazu kamen beachtliche Hilfen für den Osten aus dem EU-Kohäsionsfonds und mit dem – noch in der Schlussphase der Kanzlerschaft Kohls unter österreichischem EU-Vorsitz erfolgten – Startschuss für die Erweiterungsverhandlungen mit den mittel- und osteuropäischen Nachbarn, die Einbettung der deutschen Wiedervereinigung in die europäische Zusammenführung. Wie kleinlaut nehmen sich dagegen oft heutige Stellungnahmen zu Europa aus.

Ängstlich wird auf den Boulevard geschielt, einmal der europäische Zentralismus (Glühbirnenverbot, Uni-Zulassungsquoten) gegeißelt, dann wieder das Bild der "Festung" Europa beschworen, populistisch – defensiv auf Volksabstimmungen verwiesen statt als gewählte Volksvertreter die eigene Verantwortung wahrzunehmen. Helmut Kohl hingegen verstand es, sowohl die große europäische Linie zu wahren als auch legitime nationale Interessen durchzusetzen.

5. Zum Abschluss ein Wort zu Helmut Kohl und Österreich. Als die Beitrittsverhandlungen Österreichs Ende Februar 1995 in die Schlussrunde gingen, war es für Alois Mock kaum möglich, an seinen Freund Jacques Chirac auch nur telefonisch heranzukommen. Helmut Kohl hingegen ersuchte eigens seinen damaligen Außenminister Klaus Kinkel, eine Afrikareise abzubrechen, um persönlich in Brüssel auf den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen mit den vier EFTAStaaten zu achten. Auch später, nach der erfolgreichen Integration unseres Landes,blieb Kohl immer ein Anwalt der Anliegen kleinerer und mittlerer Staaten.

Uns allen gibt Helmut Kohl die tiefe Überzeugung mit auf den Weg: Nur wer bereit ist, auf die Probleme anderer zu hören und großzügig darauf einzugehen, kann auch auf Verständnis rechnen, wenn seine eigenen Interessen auf dem Spiel stehen. (DER STANDARD, Printausgabe, 2.4.2010)