Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich und Mitarbeiter der Armutskonferenz. Zusammen mit Michaela Moser hat er das Buches "Es reicht! Für alle! Wege aus der Armut" veröffentlich

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daStandard.at: Wer kann als arm bezeichnet werden? Aus welchen Faktoren setzt sich Armut zusammen?

Martin Schenk: Es sind zwei Faktoren: Mangel an Gütern und Mangel an Möglichkeiten. Mit Gütern ist ein geringes Einkommen gemeint. Bei Möglichkeiten denke ich an Lebenschancen und Lebensbedingungen, also eine feuchte oder schimmlige Wohnung, geringe Bildungschancen, gesundheitliche Problemef und so weiter.

Bilden die Migranten eine spezifische Gruppe unter den Armutsbetroffenen?

Schenk: Nein, da gibt es kein Spezifikum. Und ich warne davor, soziale Fragen zu kulturalisieren. Armut ist kein kultureller Faktor. Viele Migranten sind deshalb ärmer, weil sie über geringe Bildung verfügen, weil sie in Niedriglohnbranchen und prekären Jobs arbeiten. Insofern sind Migranten stärker von Armut betroffen. Zugleich gibt es aber auch einen stark ausgeprägten Aufstieg von Menschen mit Migrationshintergrund in die Mittelschicht. Diese zwei Prozesse finden gleichzeitig statt.

Haben Menschen mit Migrationshintergrund in Österreich geringere Chancen am Arbeitsmarkt?

Schenk: Es zeigt sich, dass Türken und Ex-Jugoslawen in Österreich auch dann, wenn sie sozial aufsteigen, trotzdem nicht ihrer Ausbildung entsprechend verdienen. Es findet also offenbar eine Art von Diskriminierung statt, weil viele Migranten nicht in den Jobs arbeiten, die für ihre Bildung adäquat wären. Das kann mit den Dequalifizierungserfahrungen der Menschen zusammenhängen. Das sind "die feinen Unterschiede", wie sie von Bourdieu beschrieben wurden, z.B. ein Akzent, der auf eine Sprache mit geringem Ansehen hindeutet. Es gibt Studien, die belegen, dass Bewerber mit fremdländischen Namen bei gleicher Qualifikation nicht zu Bewerbungsgesprächen eingeladen werden. Da läuft bei Personalchefs vieles unbewusst ab, diese Art von Diskriminierung ist nicht immer beabsichtigt.

Man kann nicht sagen, alle Migranten wären arm. Aber Migranten sind tendenziell von weniger offensichtlichen, mitunter unbewusst erfolgenden Formen der Diskriminierung betroffen. Eine ähnliche Diskriminierung erleben auch Angehörige der Arbeiterklasse im Unterschied zur Bürgerklasse. Da geht es also beispielsweise um Kleidung, bestimmte Umgangsformen oder Sprachgebrauch.

Was kann man gegen diese Diskriminierung am Arbeitsplatz machen?

Schenk: Da hilft nur guter Diskriminierungsschutz, also Antidiskriminierungsgesetze. Gleiche Rechte allein reichen nicht aus, um diese Schieflage auszugleichen.

Welche Wege aus der Armut gibt es?

Schenk: Es ist wichtig zu verstehen, dass im Kontext der Armut nicht die Kultur, also die Herkunft, entscheidend ist, sondern der Bildungs- und Sozialstatus. Von besonderer Bedeutung sind dabei das Einkommen und die berufliche Position der Eltern. Deshalb spielt die Schule bei der Armutsbekämpfung eine Schlüsselrolle. Wie ist die Schule konstruiert? Bietet sie Aufstiegschancen? Können Langsamere und Schnellere gut gemeinsam lernen? Wird nur gelehrt, oder gibt es auch eine Zeit zum Lernen? Eine gute Vorschulförderung ist ebenfalls wichtig. Im Alter zwischen drei und sechs Jahren bietet sich ein window of opportunity, das heißt, Fördermaßnahmen greifen gut.

Wird die Grundsicherung etwas an der Situation der Migranten ändern?

Schenk: Wohnkosten machen einen großen Posten im Monatsbudget von Migranten aus. Die Armut wird durch die Grundsicherung nicht verschwinden. Es sind mehrere Faktoren, die eine Hebelwirkung ausmachen: Einkommen, Schule, eine Kinderbetreuung, die eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglicht, soziale Dienstleistungen und so weiter. Es braucht den gesamten Mix. Die Sprache ist der Schlüssel zur Integration, das stimmt, aber die Sprache allein ist es auch nicht. Sonst müssten ja die Jugendlichen in den Pariser Vororten bestens integriert sein, sind sie aber nicht, obwohl sie perfekt Französisch sprechen. Für einen Schlüssel braucht es eben auch ein Schloss, damit die Tür aufgeht.