Unlängst in der Lobby eines Wiener Luxushotels. Es ist spätabends, und der frühere Spitzenbeamte des amerikanischen Außenministeriums ist zu müde, um aus seinem Herzen noch eine Mördergrube zu machen: "Es ist bizarr. Sie legen es beide auf einen Regimewechsel an. Obama in Jerusalem und Netanjahu in Washington. Die Beziehungen zwischen den USA und Israel sind so miserabel wie noch nie. Von einem Nahostfriedensprozess kann keine Rede mehr sein." Die Sätze fielen vor dem blutigen Zwischenfall vor der Küste Gazas. Heute müsste sie der Diplomat - so das denn überhaupt noch möglich ist - noch drastischer formulieren.

Die amerikanische Nahostpolitik ist mit der Konvoi-Krise an einem absoluten Nullpunkt angelangt. Von den Ambitionen, die Präsident Barack Obama noch zu Beginn seiner Amtszeit hatte, ist wenig geblieben. Die USA sind in der Frage des Siedlungsstopps eingeknickt, für die Palästinenser ging deswegen viel an Glaubwürdigkeit verloren. Die Israelis dagegen demütigten Vizepräsident Joe Biden bei dessen Besuch in Jerusalem mit neuen Siedlungsprojekten, schickten Mossad-Killerkommandos mit europäischen Pässen aus - und nun das Desaster mit der Solidaritätsflottille.

Die lange Reaktionszeit der US-Regierung und das verhaltene Statement zu dem Vorfall zeigen, wie ratlos man in Washington ist und wie wenig Spielraum Obama und seine Außenministerin Hillary Clinton in der Frage haben. Mit Rücksicht auf die Gesundheitsreform, für die Anfang des Jahres jede Stimme im Kongress gebraucht wurde, mussten sie sich schon in Sachen Siedlungsstopp die Schneid abkaufen lassen. Nun stehen Midterm-Wahlen an, die diplomatische Vorsicht nötig machen. Nahostpolitik ist in den USA immer auch Innenpolitik. Und es gibt inzwischen viele Experten, die meinen, einen Nahostfrieden könne nur ein demokratischer Präsident (aber vielleicht akkurat nicht Obama) in seiner zweiten Amtszeit erreichen. Also dann, wenn er mehr riskieren kann, weil er nicht mehr zur Wahl steht.

So lange aber kann niemand mehr warten. Der Leidensdruck, der Kriegsdruck in der Region ist zu stark. Die USA müssen hier und jetzt Führungskraft zeigen, wie es zuletzt Israels versiertester Diplomat Avi Primor im Interview mit dem Standard gefordert hat. Indirekte Gespräche, wie sie vor einigen Wochen aufgenommen wurden, sind völlig deplatziert. Alle Beteiligten kennen einander, manche schätzen einander sogar. Jeder strittige Punkt zwischen Israelis und Palästinensern ist in den vergangenen 15 Jahren x-mal ausverhandelt worden. Was jetzt hermuss, sind politische Integrität und diplomatischer Druck, der Jerusalem und Ramallah dazu veranlasst, mit ehrlichen Absichten an jenen Tisch zu kommen, an dem schmerzhafte Entscheidungen für beide Seiten fallen müssen.

Ein erster Schritt, diesen Druck aufzubauen, ist eine internationale und unabhängige Untersuchung des Flottenvorfalls. Dafür müssen auch die USA unmissverständlich eintreten. Ein zweiter Schritt muss die Revidierung der Politik gegenüber der Hamas in Gaza sein. Wer vom Frieden spricht, muss diesen wohl mit seinen Feinden schließen. Das gilt für die Israelis wie für die Hamas. Wenn Obama diese Neuorientierung in die Wege leitet, dann hatte es einen Sinn, bis an den Nullpunkt zu gehen. Wenn nicht, dann werden wir alle noch sehr ernüchternde Zeiten in Nahost erleben. (Christoph Prantner, DER STANDARD, Printausgabe, 2./3. Juni 2010)