"Niemand will etwas ändern am monopolistischen Finanzsystem", beklagt Bernard Lietaer. Er plädiert für mehr Diversität, ein "Ökosystem an Währungen für bestimmte Funktionen".

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STANDARD: Alle suchen Werkzeuge, um das Vehikel Finanzsystem wieder flottzukriegen. Sie behaupten, sie zu haben. Warum reißt man sie Ihnen nicht aus den Händen?

Lietaer: Wir leben in einer Orthodoxie, wenn es um Finanzfragen geht. Und diese fordert, dass jedes Land eine einzige Währung braucht, weil es effizient ist. Ich argumentiere, dass dies die Nachhaltigkeit unseres gesamten Systems verunmöglicht. Nehmen wir an, es würde beschlossen, dass Pinien die besten Bäume sind. Daher würde beschlossen, nur noch Pinien anzupflanzen. Und alle anderen Pflanzen wären illegal. Die Konsequenz wäre eine Katastrophe - egal, ob ein Feuer die Pinien dahinraffen oder ob ein neuer Schädling daherkommen würde. In der Finanzwelt findet man das normal. Wir existieren sehr selbstverständlich im Monopol. Aber wenn alles von einer einzigen Sache abhängt, geht man ein Risiko ein. Der wissenschaftliche Beweis kommt aus der Netzwerkanalyse. In natürlichen, nachhaltigen Ökosystemen finden wir stets ein Mindestniveau an Diversität.

STANDARD: Sind die Zusammenhänge und Kausalitäten, die Sie in Netzwerken wie etwa der Nahrungskette sehen, eins zu eins auf Finanzwelt und Weltwirtschaft übertragbar?

Lietaer: Was wir beweisen konnten, ist, dass es um die Struktur, um das System geht, nicht um den Inhalt. Außerdem ist klar, dass Ökosysteme nachhaltig sind, sonst wären wir alle nicht hier. Diese Mechanismen ziehen wir heran, um ein Mindestmaß jener Charakteristiken zu definieren, die ein Netzwerk nachhaltig sein lassen.

STANDARD: Was sind solche Charakteristiken?

Lietaer: Etwa das Zulassen eines gewissen Maßes an Ineffizienz. Man erinnere sich an die umfangreichen Stromausfälle, die es vor 10, 15 Jahren in Europa gegeben hat. Das ist passiert, weil die Stromverteilungssysteme zu effizient waren. Systeme können zu effizient für ihr eigenes Wohl sein. Das ist beim Finanzsystem geschehen. Man drängt in Richtung Effizienz bis zum Gehtnichtmehr.

STANDARD: Banker, Unternehmer, Politiker wären Ihre Adressaten. Wollen sie das hören?

Lietaer: Der Punkt ist, dass hier enorme monopolistische Interessen wirken. Niemand will irgendetwas verändern. Dieser Anspruch beherrscht die Welt. Und das ist das größte Hindernis. Die Regierungen werden Diener dieses Mechanismus, weil sie Steuern eintreiben mit dem Zwang, dass diese in einer Währung bezahlt werden. Regierungen könnten ganz einfach Steuerleistung in einer anderen Währung akzeptieren. Das ist keine Schnapsidee, sondern ein wohlerprobtes Modell. Uruguay ist damit sehr erfolgreich.

STANDARD: Wie sieht eine solche alternative Währung in der Praxis aus?

Lietaer: Ich rede nicht von einer alternativen Währung, sondern von einem Ökosystem an Währungen für bestimmte Funktionen, einer Diversität.

STANDARD: Wer soll dann was und wofür dürfen, und wer lenkt?

Lietaer: Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Österreich will die Arbeitslosenzahlen reduzieren. 80 bis 90 Prozent aller privaten Arbeitsplätze in Österreich hängen von KMUs ab. Das Problem der KMUs ist der Cashflow. Wenn ich als KMU etwas verkaufe, werde ich in einer Frist von 90 Tagen bezahlt. Wenn ich etwas kaufe, muss ich in einer Frist von 30 Tagen zahlen. Also gehe ich zur Bank und will eine Zwischenfinanzierung. Die Bank ist nicht interessiert, weil KMUs eben klein und daher riskant sind. Und jetzt die Lösung: Wir bilden ein Netzwerk, am besten auf regionaler Ebene. Diese Wirtschaftseinheiten erreichen eine Vereinbarung, und wir ziehen eine Bank und eine Versicherung bei. Nun nehme ich die Rechnung meines Kunden und gehe damit zur Versicherung. Wird mein Kunde zahlungsunfähig, springt die Versicherung ein. In Uruguay ist die Prämie für diesen Vorgang nur ein Prozent der Summe. Die versicherte Rechnung kann ich im Netzwerk gegen die entsprechende "Ausgleichswährung" tauschen, mit der ich meinen Lieferanten bezahlen kann, ohne auf die Euros des Kunden warten zu müssen. Der Lieferant hat die Wahl, entweder Euros über die Bank mit entsprechender Verzinsung zu erhalten oder selbst einen seiner Lieferanten mit der "Ausgleichswährung" zu bezahlen. 90 Tage später wird die "Ausgleichswährung" zu Euros, ohne Zusatzkosten.

STANDARD: Das klingt nach Genossenschaft, und das wäre nicht gerade eine neue Idee.

Lietaer: Stimmt. Aber in der Finanzwelt existiert sie nicht. Der Schweizer WIR, der vor über 70 Jahren von einer Handvoll Unternehmer als realwirtschaftliche Währungsalternative etabliert wurde, ist ein anderes Modell. Der WIR hat aber gegenüber dem hier vorgeschlagenen Modell, das ich "commercial credit circuit" (C3) nenne, ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal. Während beim WIR alle Transaktionen in dieser Währung laufen, fangen beim C3 die Transaktionen im Euro an und hören wieder beim Euro auf. Nur zwischen Anfang und Ende gibt es komplementäre Währungen. Auf diese Weise bekommt die Wirtschaft "working capital". Es ist ein kooperatives und kein antagonistisches System. Jeder würde davon profitieren.

STANDARD: Warum interessiert sich kein Krisenmanager für die Beispiele Uruguay und WIR?

Lietaer: Würde man darüber sprechen, dass das Modell erfolgreich ist, würde man zugeben, dass Wirtschaft und Finanz auch ohne Monopol funktionieren können. Das wäre, als würde Microsoft plötzlich trommeln, dass Linux eine Supersache ist.

STANDARD: Was ist der Zusammenhang von Effizienz und Resilienz?

Lietaer: Effizienz ist die Fähigkeit eines Systems, jedes Volumen pro Zeiteinheit verarbeiten zu können. Wir haben jetzt ein extrem effizientes Finanzsystem. Resilienz ist die Fähigkeit eines Systems, eine Veränderung der Rahmenbedingungen, eine Krankheit, eine Katastrophe etc. zu überleben. Das sind zwei Variablen, die nichts miteinander zu tun haben. Allerdings: Ein System ist so lange effizient, bis es kollabiert, weil es nicht resilient sein kann. Ein Zuviel an Resilienz bedeutet Stillstand. Mit einer Million Währungen kann es keine Wirtschaft geben. Der Euro ist eine gute Idee. Dass wir jetzt alles im Euro machen, ist nicht gut. Nehmen wir Griechenland. Das wird nicht das letzte Euroland sein, das in ernste Schwierigkeiten gerät. Der Euro ist ein Hammer. Ein gutes Werkzeug zum Nägeleinschlagen. Aber wir müssen Schrauben drehen oder tackern oder sonst was und brauchen daher einen Werkzeugkasten.

STANDARD: Was sollten Regierungen heute besser wissen als in vorangegangenen Krisen?

Lietaer: In den 1930er-Jahren lernte man, dass man die Banken nicht kollabieren lassen kann. Jetzt lernen wir gerade, dass die Regierungen es sich nicht leisten können, die Banken zu retten. Und wir haben heute bessere Werkzeuge.

STANDARD: Sie fordern, dass man in der Krisenrhetorik aufhören sollte, das Blamegame zu spielen. Ist die Verantwortung des Einzelnen keine Kategorie in Ihrem systemischen Ansatz?

Lietaer: Doch. Es ist trotzdem so, dass man die besten Köpfe einsetzen kann und es dennoch zu einem Kollaps kommt. Wenn man jemandem ein Auto ohne Bremsen und mit einer schwachen Batterie gibt und ihn damit über die Alpen schickt, wird er nicht weit kommen, egal wie gut er Auto fährt. Dauernd den Fahrer auszuwechseln wird das Auto nicht besser machen.

STANDARD: Wer soll nun das Auto reparieren oder sogar umbauen?

Lietaer: In 5000 Jahren Wirtschaftsgeschichte findet man kein einziges Beispiel von Prävention. Es scheint eine Gesetzmäßigkeit zu sein, dass wir warten müssen, bis ein System zusammenbricht, bevor das nächste entwickelt werden kann. (Bettina Stimeder, DER STANDARD, Printausgabe, 2.6.2010)