Österreichs Schulsystem hält für die Kinder zwei gravierende - und dabei völlig überflüssige - Stressfaktoren bereit: die Selektion mit zehn, die über den Aufstieg ins Gymnasium entscheidet, und die Selektion durch Sitzenbleiben.

Ministerin Schmied kündigt für "Stressfaktor 1" Entlastung an. Sie sieht im Standard-Interview (Schwerpunktausgabe "Die andere Schule, 26. 6.) allen Ernstes das Heil in der Ausweitung des Schulversuchs Neue Mittelschule. Vorarlberg solle dabei eine "Pionierrolle" einnehmen und "komplett umstellen". Wie bitte? Die "komplette Umstellung" wird darin bestehen, dass zusätzlich zu den 51 Hauptschulen, die jetzt "Vorarlberger Mittelschule" heißen, fünf weitere diesen Titel tragen werden - und damit alle Hauptschulen des Landes "Neue Mittelschulen" sein werden. An der frühen Selektion der Kinder und dem entsprechenden Druck ändert sich nichts, weil die AHS-Unterstufen natürlich weiterbestehen werden.

Sie werden auch zukünftig das Objekt der Begierde von Eltern sein, die möglichst früh für den Erhalt des sozialen Status ihrer Kinder sorgen wollen und dafür die prestigereichere Schulform mit den besser bezahlten und besser qualifizierten Lehrkräften haben wollen. Der entsprechende elterliche Druck auf Kinder und Lehrer/innen schon in der Volksschule wird bestehen bleiben. In Vorarlberg gibt es nicht einmal ein einheitliches Konzept für den Schulversuch Neue Mittelschule, jeder Standort macht mehr oder weniger, was er will. Ein solcher Fleckerlteppich wird keine sinnvolle Evaluation ermöglichen. Das ist keine grundlegende Reform, sondern Wasser auf die Mühlen der Traditionalisten. Die Verantwortlichen wollen in Wirklichkeit von dem im Gesetz festgeschriebenen Ziel dieses Schulversuchs gar nichts wissen: nämlich dem "Hinausschieben der Bildungslaufbahn-Entscheidung", also der Trennung der Kinder mit 14 Jahren statt mit neuneinhalb.

"Stressfaktor 2": Über 50.000 Schüler/innen haben in diesen Tagen ein Zeugnis mit zumindest einem "Nicht genügend" erhalten. Über 40.000 von ihnen schaffen die Anforderungen für die sogenannte "Aufstiegsklausel" nicht: Sie müssen das Schuljahr wiederholen. Das ist vom Staat verordnete Frustration, das ist pädagogisch größtenteils sinnlos, und es kostet Unsummen an Steuergeld. Vor allem aber raubt es unseren Kindern ein Bildungsjahr, erzeugt Versagensängste und bringt unglaublichen Stress in die betroffenen Familien. Trotz aller "Frühwarnsysteme", trotz des teuren Nachhilfeunwesens: insgesamt muss derzeit etwa jeder fünfte Jugendliche in seiner Schullaufbahn eine solche Negativ-Erfahrung machen.

Schauen wir uns die Länder mit hohem schulischem Niveau an. Finnland hat kein "differenziertes Schulsystem" für die 10- bis 14-Jährigen: Finnland liegt bei allen internationalen Tests im Spitzenbereich und bringt die größte Zahl an Spitzenschülern hervor. In Finnland müssen auch nur 0,4 Prozent eine Klasse wiederholen - immer auf freiwilliger Basis und meist aus gesundheitlichen Gründen. Österreich hingegen setzt die Kinder schon in der 3. und 4. Volksschulklasse unter den immensen Stress der bevorstehenden Selektion und produziert außerdem zehnmal mehr Repetenten. Warum tun wir das unseren Kindern an? (Harald Walser, DER STANDARD, Printausgabe, 2.7.2010)