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María Kodamas Urteil über das World Wide Web ist kategorisch: "Glauben Sie nicht, was im Internet steht. Die Leute fabulieren und erfinden Dinge, die sie dann im Internet auskotzen und als Wahrheit verkaufen." Die Witwe des argentinischen Weltliteraten Jorge Luis Borges ärgert sich nicht nur über verfälschte Versionen der Erzählungen ihres 1986 in Genf verstorbenen Ehemannes im Netz: "Viele merken nicht, dass sie durch ungenaue Wiedergabe das Werk von Borges zerstören." Auch und vor allem die unzähligen Mythen, die sich um Leben und Werk des 1899 in Buenos Aires geborenen Schriftstellers ranken, sind ihr ein Dorn im Auge.

Durchaus verständlich, verquicken sich doch im Internet bekanntlich Fakten und Fiktion mindestens ebenso munter wie in Borges' vertracktem literarischem Kosmos, den sie seit seinem Tod als alleinige Erbin und Inhaberin der Rechte an seinem Werk verwaltet. Dabei gilt Borges vielen seiner Anhänger als "eigentlicher Erfinder" des Internets, da er mit seinen oftmals jegliche Linearität durchbrechenden, tausendfach untereinander verknüpften und aufeinander Bezug nehmenden Gedankenexperimenten das Prinzip Hypertext vorweggenommen habe. In seinen Kurzgeschichten entwarf er rätselhafte Traumwelten, labyrinthische Bibliotheken, die sich in die Unendlichkeit ausdehnen, und zu konspirativen Zwecken erdachte Paralleluniversen, die nach und nach in die uns umgebende Wirklichkeit eindringen und sich ihrer bemächtigen.

In der 1940 veröffentlichten Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius beispielsweise kreiert eine mysteriöse Geheimgesellschaft die virtuelle Welt Tlön, indem sie deren Funktionsweise in einer fingierten Enzyklopädie beschreibt. Schließlich nimmt Tlön kraft dieser imaginativen Leistung tatsächlich Gestalt an, die virtuelle beginnt die tatsächlich erfahrbare Welt zu verändern - mit dem Ich-Erzähler zieht der durch das geschickt verwobene Gemenge aus historischen Figuren und haarsträubender Fiktion verwirrte Leser allmählich die Realität in Zweifel.

Ob das Internet nicht eine Art Manifestation Tlöns sei? "Für solche Spielereien habe ich keine Zeit", meint Kodama. Es gäbe aber eine Anekdote, die vielleicht darauf hindeuten mag, was Borges dazu gesagt hätte: "Als wir einmal sehr lange an einem Flughafen auf das Check-in warten mussten, fragte Borges nach dem Grund dafür, dass es solange dauerte. Die Dame am Schalter erklärte ihm, dass das Computersystem abgestürzt sei - worauf er erwiderte: 'Nehmen Sie Papier und Bleistift und schreiben Sie mir mein Ticket per Hand. Das ist das einzige System, das nicht abstürzen kann'."

Ungewöhnliche Freundschaft

Jorge Luis Borges und María Kodama lernten sich in den 1960er-Jahren in Buenos Aires kennen, der genaue Zeitpunkt ist von ebenso borgesianischer Rätselhaftigkeit wie das Geburtsjahr der gut vier Jahrzehnte jüngeren Kodama. Sie pflegt in Interviews darauf hinzuweisen, dass man eine Dame nicht nach ihrem Alter zu fragen habe.

Erstmals habe sie Borges als 12-jähriges Mädchen bei einem seiner literaturwissenschaftlichen Vorträge gesehen, mit 16 sei sie ihm zufällig begegnet und habe ihn angesprochen, ist in der von Gwendolyn Díaz herausgegebenen Anthologie Women and Power in Argentine Literature nachzulesen. Zwischen dem Weltruhm genießenden Schriftsteller, der aufgrund einer Erbkrankheit zunehmend erblindete, und dem Schulmädchen entwickelte sich eine ungewöhnliche Freundschaft. Gemeinsam lernten sie Angelsächsisch und Isländisch, Kodama wurde seine Studentin und schließlich, als 1975 Borges' Mutter starb, seine persönliche Assistentin und ständige Begleiterin.

Zu diesem Zeitpunkt galt der argentinische Kosmopolit längst als Anwärter auf den Nobelpreis, der ihm jedoch aus politischen Gründen versagt blieb - zu provokant kokettierte er in den 1970er-Jahren mit den reaktionären Militärregimes in Argentinien und Chile.

Kurz vor seinem Tod im Juni 1986 beschloss Borges schließlich, Argentinien den Rücken zu kehren. María Kodama begleitete ihn nach Genf, wo er auch begraben werden wollte: "Borges hat seine Jugend in dieser Stadt verbracht, das hat ihn geprägt. Außerdem empfand er Sympathie für die Schweiz, weil es ihn beeindruckte, dass dort unterschiedliche Sprachgruppen und Religionen aufgrund einer auf Intelligenz und Toleranz beruhenden Entscheidung friedlich zusammenleben."

49 Tage vor seinem Tod heiraten die beiden schließlich, bereits zuvor hatte Borges sein Testament zu ihren Gunsten geändert, was bei seinen Freunden und Verwandten ebenso wie in der argentinischen Presse Anlass für wilde Anfeindungen war. Bis heute ist María Kodama immer wieder Zielscheibe polemischer Angriffe, doch die vitale Witwe verteidigt sich und "ihren" Borges stets energisch. Zuletzt im Jahr 2009, als in Argentinien wieder einmal die Debatte aufflammte, die sterblichen Überreste des Meisters zu repatriieren - was Kodama verhinderte.

Obwohl sie selbst schriftstellerisch tätig ist, publiziert sie selten eigene Erzählungen. Sie hat ihr Leben gänzlich Borges' Andenken und der weiteren Expandierung seines literarischen Universums verschrieben. Auf der Frankfurter Buchmesse wird Jorge Luis Borges in unzähligen Programmpunkten, Diskussionen und sogar einer labyrinthartigen Installation direkt oder indirekt Thema sein, María Kodama wird ihn bei zwei Veranstaltungen vertreten: Zunächst bei der Präsentation des Buches Borges Poeta - Borges als Dichter (8. 10.), einer Auseinandersetzung mit der lyrischen Dimension von Borges' Werk, herausgegeben von dem an der Universität Leipzig tätigen Literaturwissenschafter Alfonso de Toro. Dieser bezeichnet Borges übrigens in seinen Publikationen als "Schöpfer der digital-virtuellen Medien" und als "Urvater des postmodernen Zeitalters".

Unter dem Titel Borges und Island - Erinnerungen wird sie mit dem isländischen Schriftsteller Guðbergur Bergsson die Faszination erörtern, welche die isländische Sprache und Literatur auf Borges ausübten (9. 10. ). Auf Einladung des Österreichischen Pen-Clubs wird sie schließlich am 12. 10. auch in Wien zu erleben sein, allerdings nicht in ihrer klassischen Rolle als Stellvertreterin Borges' auf Erden, sondern in eigener Mission: Im Rahmen des "Writers Festival II: Free the World" wird sie aus der erwähnten Anthologie von Gwendolyn Díaz eine eigene Erzählung mit dem Titel Leonor vortragen. Welche aktuellen Schriftsteller ihres Heimatlandes kann María Kodama empfehlen? "Leider komme ich nicht dazu, aktuelle Literatur zu lesen. Nicht, dass ich nicht möchte, aber meine Zeit ist zur Gänze damit ausgefüllt, mich dem Werk Borges' zu widmen. Wenn ich zwischen all den Konferenzen, Reisen, Ausstellungen und Tätigkeiten in der Stiftung einen freien Moment finde, höre ich Musik - oder ich nehme bei den griechischen Klassikern Zuflucht." (Stefan Mayer / DER STANDARD, Printausgabe, 2./3.10.2010)