Die österreichische Literatur erscheint in deutschen Verlagen und findet ein großes deutsches Lesepublikum. Doch die Abgrenzung zwischen dem Lokalen und dem Rest der literarischen Welt hat sich zunehmend verschärft.

Am Vorabend zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 2010 wird zum sechsten Mal der Sieger des Deutschen Buchpreises verkündet. Mit diesem Preis, dessen erster Gewinner 2005 Arno Geiger mit seinem Roman Es geht uns gut war, ist im deutschen Sprachraum ein kleines Kunststück gelungen: Jahr für Jahr wird mittels eines aufwändigen Verfahrens in mehreren Stufen ein neuer Roman ins mediale Rampenlicht gerückt - und damit auch nachhaltig zum Kauf empfohlen -, der zugleich auch in seiner literarischen Qualität hoch angesehen ist. Wenn es laut Statut dabei um den "besten Roman in deutscher Sprache" geht, geraten zudem regelmäßig auch Autorinnen und Autoren mit gar nicht ‚deutscher‘ Biografie in die Vorauswahl.

So bietet der Buchpreis ein gutes Schaufenster, um qualifiziert abzuschätzen, was sich in der deutschsprachigen Literatur gerade tut. Viele hierzulande werden dann gespannt verfolgen, ob Doron Rabinovici, der in Tel Aviv geborene Wiener Autor und Historiker, mit seinem Roman Andernorts oder das Buch Tauben fliegen auf der in der Schweiz lebenden serbischen Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji aus dem Salzburger Jung-und-Jung-Verlag zum Star der Frankfurter Buchmesse 2010 gekürt wird.

Autorinnen und Autoren aus Österreich eilt der Ruf voraus, beim deutschen Lesepublikum wie auch bei Medien und Juroren seit Jahrzehnten besonders beliebt zu sein. Im liebevoll gefeierten "Österreicher-Jahr" 2007, dem "Beinahe-Cordoba" der neueren Literatur (leider trug nicht Hansi Krankl, sondern die deutsche Autorin Julia Frank letztendlich den Sieg davon) gelangten fünf heimische Literaten in die Vorauswahl von insgesamt 20 Romanen: Peter Henisch, Robert Menasse, Peter Truschner sowie Thomas Glavinic und Michael Köhlmeier, die auch noch ein weiteres Mal auf die Longlist des Deutschen Buchpreises kamen, Glavinic 2009 mit Das Leben der Wünsche und Köhlmeier dieses Jahr mit Madalyn. Die Analyse der ‚Scores‘ hat allerdings nicht zum Ziel, mittels Torlisten Literatur und Fußball zu verwechseln. Es geht mir darum, wie weit Geschichten und Ideen über Autoren und Bücher aus Österreich über dessen Grenzen wirken - und wo die vergleichsweise engen nationalen Grenzen zur immer schwerer überwindbaren Schwelle geworden sind.

Vieles deutet nämlich darauf hin, dass die heimische Buchwelt stärker denn je ein Inseldasein fristet, mit nur ganz wenigen Schlupflöchern, die erlauben, die unsichtbare Mauer zu überwinden. Das grundsätzliche Dilemma ist nicht neu. Aber aktuelle Zahlen zeigen eine merkliche Verengung, die auch für die absehbare Zukunft keine kulturelle Aufbruchsstimmung verspricht. Ich habe mir hierfür unter anderem die vier letzten Jahre, 2007 bis 2010, des deutschen Buchpreises genauer angesehen.

Von den insgesamt 13 Büchern österreichischer Autoren auf der Longlist stammen zwei aus dem Salzburger Jung-und-Jung-Verlag des ehemaligen Residenz-Chefs Jochen Jung, eines aus dem 2006 von Salzburg nach St. Pölten übersiedelten Residenz-Verlag sowie zwei weitere aus dem Grazer Droschl-Verlag. Fünf Titel wurden in Wien verlegt, bei Zsolnay oder Deuticke, den beiden in den 1990er-Jahren vom Münchner Carl Hanser übernommenen und neu ausgerichteten Programmmarken. Hanser selbst brachte fünf weitere Romane österreichischer Autoren auf die anspruchsvolle Bühne des Preises, unter anderem die von Köhlmeier und Glavinic.

Die zentrale Verschiebung in den Buchwelten, die vor etwas mehr als einem Jahrzehnt stattfand, wird noch um vieles deutlicher, wenn man einen zweiten Blickwinkel wählt und auch den allgemeinen Verkaufserfolg einbezieht.

Ein Vergleich von Bestsellern in Österreich und Deutschland zeigt einen bemerkenswerten Gleichklang, der allerdings nach Jahrzehnten des engen kulturellen Austausches zwischen gleichsprachigen Nachbarn, allen austriazistischen Mythologien zum Trotz, wenig überraschend ist.

In Österreich wie in Deutschland gelangten innerhalb der letzten zwei Jahre jeweils knapp über hundert belletristische Autoren in die Spitzenränge der jeweiligen Top-20-Bestseller-Listen. Rund die Hälfte sind Übersetzungen aus anderen Sprachen, bei denen das Englische als Ursprungssprache dominiert. Aber vom Brasilianer Paulo Coelho über die populären Schwedenkrimis (Henning Mankell) oder den französischen Überraschungserfolg Die Eleganz des Igels von Muriel Barbery ist selbst das Spitzensegment vielfältiger, als die Warner vor der angelsächsischen Gleichmacherei wahrhaben wollen. Die internationale Autorenauswahl ist zwischen Österreich und Deutschland insgesamt sehr ähnlich.

Rund die Hälfte der Bestseller wurden deutsch geschrieben. Doch nur Daniel Glattauer (Gut gegen Nordwind, oder, jetzt eben erschienen, Theo) schafft es aus Österreich auch auf die Spitzenränge der deutschen Spiegel-Bestsellerliste, desgleichen Daniel Kehlmann mit Ruhm, bei dem sich freilich streiten lässt, ob er tatsächlich als Österreicher zu vereinnahmen ist. In Österreich ist indessen etwa die Hälfte der deutschsprachigen Plätze, wiederum wenig überraschend, von heimischen Autoren besetzt.

Von den Romanen österreichischer Autoren, die hier in die Bestsellerränge gelangten, stammen allein sechs aus dem münchnerisch-wienerischen Verlagsverbund Hanser-Zsolnay-Deuticke. Fünf Verlage mit Stammsitz in Österreich konnten ihre Autoren zumindest in Österreich ins Spitzenfeld bringen, allesamt mit klar lokalem Profil: den Kabarettisten Michael Niavarani, die beiden bodenständig konturierten Krimi-Autoren Alfred Komarek (Polt) und Eva Rossmann (Mira Valensky) sowie Tagebücher, Anekdoten und Satirisches von Erika Pluhar, Georg Markus, Otto Schenk oder David Schalko.

Die Unterscheidung zwischen "lokal" und gesamtdeutschsprachig ist in sich gewiss kein Merkmal literarischer Qualität. Aber für eine Gesamtbetrachtung einer Verlagsszene und eines kulturellen Marktes ist es signifikant, wie weit es gelingt, ein breiteres oder nur ein eng umgrenztes Publikum anzusprechen. Drei Merkmale lassen sich dazu erkennen:

QLiterarische Autorinnen und Autoren aus Österreich finden nach wie vor ein Lesepublikum im gesamten deutschen Sprachraum.

QDer Verlag Hanser - auch in Deutschland eine allererste Adresse - mit seiner nunmehr gut eingeführten Wiener Filiale ist dabei der mit Abstand wichtigste Akteur. Nur drei weiteren österreichischen Verlagen gelingt es wenigstens punktuell, Autoren auf den großen deutschsprachigen Bühnen zu platzieren: Droschl, Jung und Jung sowie Residenz.

Q Alle anderen heimischen Häuser, die sich mit Literatur beschäftigen, zielen nahezu ausschließlich auf ein lokales Lesepublikum, und dies paradoxerweise selbst dann, wenn sie sich mit literarischen Übersetzungen aus vielen Sprachen programmatisch als grenzüberschreitende Mittler zu profilieren bemühen.

Nach 18 Jahren gezielter österreichischer Verlagsförderung, mit einem jährlichen Aufwand von derzeit rund 2,7 Millionen Euro pro Jahr, ist dies eine ernüchternde Bilanz. Eine im Oktober 2009 am Wiener Institut für Höhere Studien (IHS) erstellte Untersuchung, für die bienenfleißig Datenmaterial über den Gesamtmarkt mit Büchern zusammengetragen und ausgewertet wurde, setzt einiges drauf auf diesen Befund. Verlagsprodukte aus Österreich kommen auf dem deutschen Buchmarkt in Summe auf gerade einmal 1,2 Prozent Marktanteil. Dem Verhältnis zwischen den Bevölkerungszahlen würde jedoch eher ein Anteil von zehn Prozent gerecht werden. Der Anteil der aus Deutschland stammenden Bücher auf dem österreichischen Buchmarkt beträgt umgekehrt mehr als zwei Drittel (69 Prozent im Jahr 2008). Noch vor einer Generation, um 1980, erzielten österreichische Verlage rund die Hälfte ihrer Erlöse aus dem Export nach Deutschland. Davon kann heute keine Rede mehr sein.

Naiv könnte man fragen: Weshalb ist das ein Problem?

Bücher sind traditionell das wichtigste Medium, um komplexe kulturelle Inhalte (und damit die Identität und die Besonderheiten eines Landes) im eigenen Land und auch nach außen zu kommunizieren. Die Bedeutung solcher kultureller Verständigungsleistungen nimmt durch Informationsgesellschaft und Internationalisierung rapid zu. Durch die Digitalisierung des Wissens, die nun auch Bücher umfasst, wird kulturelle Profilierung zu einer der wichtigsten Ressourcen wie auch zur Kennlinie für die Identität eines Landes. Literatur ist ein Kernbereich im Prozess der kulturellen Kommunikation.

Doch immer weniger Lesende halten einen immer größeren Anteil an der insgesamt gelesenen belletristischen Literatur. Die IHS-Studie fand auf der Basis von Branchenbefragungen heraus: Nur rund zehn Prozent aller lieferbaren Titel generieren 80 Prozent der Verlagsumsätze, und zehn Prozent der (viel lesenden, urbanen, gebildeten) Leser kaufen rund 90 Prozent der belletristischen Titel.

Diese komplexe Zielgruppe auch tatsächlich anzusprechen wird für kleinere Verlage mit sehr beschränkten Werbemitteln immer schwieriger, und wenn Verlage schon jetzt große Mühe haben, ihr Publikum zu erreichen, werden sie sich im digitalen Umfeld mit seinen noch viel schwierigeren Konkurrenzen um die Aufmerksamkeit der Lesenden kaum durchsetzen können.

Das bedeutet freilich nicht einen Abgesang auf die österreichische Literatur. Aber es sollte deutlich machen, wie wichtig es ist, Wege aus einer sich verengenden Einbahnstraße heraus zu suchen. Die Frankfurter Buchmesse ist für die dazu nötige Faktenrecherche gewiss der richtige Ort. (Rüdiger Wischenbart/ DER STANDARD, Printausgabe, 2./3.10.2010)