Kann man einen Menschen herbeilieben? Kann die Sehnsucht so stark sein, dass dieser Mensch scheinbar leibhaftig mit am Tisch sitzt, im gleichen Bett liegt? Emilia hat Simón vor dreißig Jahren verloren. Er ist aus ihrem Leben gefallen. Beide sind kurz nach ihrer Hochzeit in Argentinien zur Zeit der Militärdiktatur 1976 festgenommen und gefangen genommen worden. Simón tauchte nicht wieder auf. Oder doch?

Seine Frau erhält immer wieder Briefe und Anrufe mit Hinweisen: Sie suchte ihren Mann in Brasilien, Mexiko, in Venezuela und zuletzt in den USA. Die Kartografin meint Hinweise auf Landkarten zu entdecken, dass er, der den gleichen Beruf hatte, ihr eine Spur zu legen versuchte.

Es ist wahrlich ein Fegefeuer - deshalb der Titel "Purgatorio" -, durch das Emilia ihr Leben lang marschiert. Ihr Vater ist ein Schreibtischtäter, der in seinen Kolumnen die Machenschaften der Armee verteidigt und gegen "subversive Elemente" hetzt. Ob er auch seinen Schwiegersohn ermorden ließ, bleibt offen. So wie vieles in dem auf Spanisch so prallen Roman, der auf Deutsch an Intensität eingebüßt hat.

Tomás Eloy Martínez hat in seinem letzten Roman, der wirklich sein allerletzter war, Realität und Fiktion so ineinander verschlungen, dass nicht erkennbar ist, was ist nun welche Wirklichkeit, was ist Wunsch und was ist Wahn. Es geht immer wieder um die andere Wirklichkeit, und am Ende ist nicht klar, bildet sich Emilia die Rückkehr Simóns nur ein oder findet er sich wirklich ein?

Vieles von dem, was Tomás Eloy Martínez beschreibt, ist wahr: Das Buch trägt klar die Handschrift des Journalisten. Weil er das trotz seines umfangreichen literarischen Werkes Zeit seines Lebens geblieben ist, gehört er nicht zu den Vertretern des magischen Realismus wie Gabriel García Márquez, der auch einmal als Reporter begonnen hatte, aber dessen sprachliche Urgewalt und Fabulierlust mit dem nüchternen Stil des Argentiniers nicht zu vergleichen ist.

Tomás Eloy Martínez schildert mit nüchternen Worten Fakten der grausamen Militärdiktatur in Argentinien, die zur schlimmsten in Lateinamerika gehörte. Es verschwanden 30.000 Menschen. Mit Simóns Schicksal ist wie jenes von Emilia eines von vielen, das der Autor als Pars pro Toto nimmt. Bruchstücke seiner Biografie werden sichtbar, denn "Purgatorio" ist das Vermächtnis von Tomás Eloy Martínez. Er starb Anfang des Jahres in Buenos Aires an Krebs.

Sein Land musste er 1975 nach Todesdrohungen verlassen, kurz bevor die Militärs die Macht übernahmen. Auch in anderen Büchern wie der "Trelew Passion" hat er sich mit dem Schrecken der Diktatur auseinandergesetzt und versucht, den Schrecken der Menschen in Worte zu fassen, "als das Land mit Toten übersät war". Er floh damals nach Venezuela, lebte dann in den USA, zuletzt als Leiter der Lateinamerika-studie an der Rutgers University in New Jersey. In die argentinische Hauptstadt ist der eloquente Grenzgänger erst vor drei Jahren zurückgekehrt.

"Purgatorio" ist ein wütendes Werk. Es ist als Abrechnung eines Mannes zu lesen, der zur Flucht aus seinem Land gezwungen worden war. Er selbst war darüber erstaunlicherweise nicht verbittert, denn die literarische Auseinandersetzung ermöglichte ihm, vieles aufzuarbeiten.

Sein letzter Roman, der mäandert und virtuos auf einen Schluss zustrebt, lässt dann doch alles offen. Emilia und Simón, sie werden gemeinsam in den Sonnenuntergang segeln. Vielleicht. Oder war alles nur eine Einbildung? Sehnsucht, Liebe, Leidenschaft überwinden selbst den Schrecken einer Diktatur, in der man die Illusion zum Überleben braucht. Das ist Tomás Eloy Martínez' Vermächtnis. (Alexandra Föderl-Schmid/ DER STANDARD, Printausgabe, 2./3.10.2010)