STANDARD: Herr Schulze, Sie wurden 1962 in Dresden geboren - da war die Berliner Mauer gerade ein Jahr alt. Als die Mauer 1989 fiel, waren Sie 27. Würden Sie sich als ein "Kind der DDR" bezeichnen?

Schulze: Ich bin ein Kind Ostdeutschlands. Natürlich ist man von diesem Umfeld auch politisch geprägt, wenngleich nicht im Sinne der offiziellen DDR. Keiner in meiner Familie wäre auf die Idee gekommen, in eine Blockpartei einzutreten. Andererseits würde ich auch nicht sagen, dass wir oppositionell waren. Ich war Mitglied bei den Jungen Pionieren, in der FDJ und ging später eineinhalb Jahre zur Armee. Je bewusster ich mir nach dem Abitur als Student des politischen Umfeldes wurde, desto mehr versuchte ich, mich nicht in diese Ja-Nein-Konstellation zur DDR zu begeben. Ein Ja kam ohnehin nicht infrage. Auch das pure Nein wollte ich nicht. Gerade dort jedoch, wo man glaubte, weit weg von der DDR zu sein, merkte man im Nachhinein, dass man ihr am allernächsten war. In diesem Versuch, sich abzustoßen, drückt sich sehr viel aus über die Abhängigkeit. Von daher bin ich durch und durch geprägt von dieser DDR.

STANDARD: Inwieweit war es in der DDR möglich, sich eine eigene Sichtweise anzueignen?

Schulze: Wir verfügten über ein relativ gutes Wissen, auch wenn es Bücher nicht in derselben Selbstverständlichkeit wie im Westen gab. Es war eine verkehrte Welt. Marx und Engels wurden in der DDR weniger gelesen als im Westen. Den französischen Strukturalisten widmete man sich dagegen mit beinah religiöser Inbrunst. Ich rede jetzt nicht von der offiziellen DDR. Ich erlebte 1989 nicht als geistige Offenbarung, die mir endlich Zugang zu Wissen verschaffte. Im Gegenteil, die ersten Jahre nach 1989 erlebte ich als geistig trübe, da habe ich kaum noch Zeit zum Lesen gefunden.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die literarische Verarbeitung der DDR in der Gegenwartsliteratur?

Schulze: Da wurde bereits zu DDR-Zeiten Wichtiges geleistet. Wenn man heute über die Vergangenheit schreibt, muss man irgendwie die Distanz merken. Ich habe 1990 anders über die DDR gesprochen als 1995, 2000 oder heute. Für mich sind Bücher wie Heimsuchung von Jenny Erpenbeck oder Böse Schafe von Katja Lange-Müller oder Lutz Seilers Die Zeitwaage hochliterarische Bücher, aus denen man viel über die damalige Zeit in Ost und West erfährt, man muss ja immer beides zusammen sehen. Wichtig ist auch das neue Buch Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud von Christa Wolf, in dem sie zeitliche Ebenen der Vergangenheit und der Gegenwert miteinander verbindet. Dadurch kommt es zu Brüchen, die Erfahrungen nicht relativieren, aber einordnen. Das Schlimme an der DDR war, dass man keine Möglichkeit zum Vergleich hatte. Entweder man verließ das Land, dann war man draußen, oder man blieb.

STANDARD: Gibt die heutige Literatur ein nüchternes, die Wirklichkeit von Zeit und Leben in der DDR widerspiegelndes Bild?

Schulze: Mein Eindruck ist, dass es vor zehn Jahren eher möglich war, mit einer Gelassenheit über die DDR zu schreiben. Seit zwei, drei Jahren beobachte ich einen regelrechten Kampf um die Vergangenheit, der sich auch außerliterarisch äußert, indem bestimmte Worte abgefragt werden wie Unrechtsstaat oder Diktatur. Ich habe keine Probleme, diese Worte auf die DDR anzuwenden. Nur muss man sehen, von wo aus man spricht und in welchen Kontext dieses Sprechen gerät. Literatur ist auch eine Form der Erinnerung. Jede neue Erfahrung verändert den Blick auf die Vergangenheit. In der Literatur habe ich die Möglichkeit, einander scheinbar ausschließende Erfahrungen nebeneinander zu stellen. Die DDR war eine Diktatur, die sich unblutig beiseite schieben ließ. Was wir 1989 ein paar Monate erlebten, war eine Freiheit, wie man sie im Westen, wo Besitz und Geld eine Rolle spielen, gar nicht kennt. In dieser Übergangszeit schien alles möglich.

STANDARD:Inwieweit wird die Literatur in der Lage sein, das Leben in der DDR für nachfolgende Generationen verstehbar zu machen?

Schulze: Das muss man abwarten. Die Literatur, die nicht sammelt und wertet, sondern das Augenmerk auf das literarische Kriterium legt, besitzt die Möglichkeit, eine Zeit zu begreifen. Diese Hoffnung habe ich. Wenn man Horns Ende von Christoph Hein liest, erfährt man einiges über die DDR, ebenso aus den Büchern von Wolfgang Hilbig und Hans Joachim Schädlich. Dennoch ist Literatur nur ein Teil der Recherche zur Vergangenheit. Das Eigentliche der Literatur ist, dass sie den Eindruck vermittelt, es sei von einem selbst die Rede.

STANDARD:"Literatur ist dafür da, dass man mit bestimmten Erfahrungen nicht allein bleibt" , sagten Sie 2007 in Ihrer Leipziger Poetikvorlesung ...

Schulze: Da zitiere ich Franz Fühmann. Ich verstehe die Welt durch Literatur. Werner Kraus nannte Literatur die Innenseite der Weltgeschichte. Geschichte ist komplexer, als es Geschichtsbücher darstellen können. Geschichte besteht aus Geschichten, der Singular wird in den Plural aufgelöst, die Widersprüche bleiben erhalten. Oft lösen sich die Geschichten von den konkreten Personen und Ereignissen ab, es bleiben Geschichten, Anekdoten, Bilder, Witze. Man kann in ihnen Muster erkennen, die heute noch zu uns sprechen können.

STANDARD:In einem Interview erklärte Christa Wolf kürzlich über die DDR: "Wir haben dieses Land geliebt." Entspricht diese Einschätzung der damaligen Realität?

Schulze: Ich kenne diesen Satz aus ihrem letzten Buch. Er wird relativiert. Sie selbst erwog ernsthaft wegzugehen. Ich bin dankbar, dass sie geblieben ist. Es war wichtig, dass Kein Ort. Nirgends und Kassandra im Osten erscheinen konnten. Ich kann mir den Satz nur als Trotzreaktion vorstellen. So wie sie die DDR beschrieb, war das nichts, was in einem Liebe weckte. Die Mehrheit hat dieses Land nicht geliebt. Ich habe es nicht geliebt. Trotzdem war es das Land, für das ich mich mitverantwortlich fühlte und in dem ich glaubte, etwas tun zu können. Sonst wäre ich gegangen.

STANDARD: Was empfanden Sie nach dem Ende der DDR?

Schulze: Wir befanden uns in einem Prozess, von dem wir nicht wussten, dass er zum Ende der DDR führen würde. Entscheidend war der 9. Oktober 1989. In den Wochen danach beschleunigte sich die Entwicklung. Ende Oktober war mir klar: Jetzt kippt der Laden. Nicht dass ich die Grenzöffnung am 9. November voraussah, aber es offenbarte sich, dass die Mauer nicht zu halten war. Der Endpunkt war für mich die Volkskammerwahl am 18. März 1990. Da bekam das Neue Forum 2,9 Prozent der Stimmen, die Allianz für Deutschland 48 Prozent. Das bedeutete, dass jene, die noch im Oktober auf der anderen Seite gesessen hatten, wieder die Wahlsieger waren.

STANDARD:Waren Sie enttäuscht?

Schulze: Es gab viele Desillusionierungen. Alles war ganz anders ausgegangen, als ich gedacht hatte. Aber ich musste es akzeptieren. In gewisser Weise war ich plötzlich entpolitisiert. Wir wollten mit unserer neugegründeten Zeitung die Demokratisierung vorantreiben, eine andere DDR ... Ich brauchte lange, um wieder politisch zu werden.

STANDARD: Haben Sie den Umbruch als kulturell erlebt?

Schulze: Ich ging vom Theater, an dem ich als Dramaturg arbeitete, weg und gründete mit Freunden eine Zeitung. Im Nachhinein merkte ich, dass das, was mit meinem Leben geschah, dem Wendeprozess nicht unähnlich war. Aus einer Welt, in der es 24 Stunden Literatur, Kunst und Theater gab, ging ich in eine Welt, in der ich nur noch auf Zahlen schaute. Ich las kein Buch mehr. Die Romane und Theaterstücke hatten nichts mit den Nöten eines um das finanzielle Überleben kämpfenden Geschäftsmannes zu tun. Bücher, die 1990/91 erschienen, hatten es schwer, wahrgenommen zu werden, weil anderes im Vordergrund stand. Wir kamen von heute auf morgen in eine Kultur hinein, in der sich alles über Geld ausdrücken lässt. Für uns war das neu.

STANDARD:"Mein Problem ist nicht das Verschwinden des Ostens, sondern das Verschwinden des Westens unter der Lawine einer selbst verschuldeten Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die Begriffe wie Freiheit und Demokratie zunehmend zum Popanz macht" , das äußerten Sie 2007 ...

Schulze: Heute geht es nicht mehr um Ost und West, sondern um oben und unten. Dass sich die Gesellschaft ökonomisch und sozial polarisiert, was der Demokratie nicht guttut, hat auch mit den Entscheidungen von 1989/90 zu tun. Die Crux ist, dass es keine Vereinigung war, sondern ein Beitritt. Aus heutiger Sicht betrachtet, erscheint mir 1989/90 als eine vertane Chance des Westens. Denn das wäre ein Moment gewesen, gewisse Strukturen in allen Bereichen zu überprüfen. Die Weichen wurden in Richtung Privatisierung gestellt. Dabei hätte man von Fall zu Fall entscheiden müssen, ob Vergesellschaftung oder Privatisierung angemessen ist. Aber solche Fragen kamen gar nicht auf. Es war nicht gewollt. Heute zahlen wir den Preis dafür. (Von Adelbert Reif/DER STANDARD, Printausgabe, 2.10.2010)