Auch wenn der ursprüngliche - und für viele damals unerwartete - Hype rund um Netbooks mittlerweile spürbar abgeflaut ist, so ist dies doch gerade für Linux-Distributionen weiterhin ein durchaus relevanter Bereich. Immerhin ist das freie Betriebssystem hier - im Vergleich zum klassichen Desktop-Markt - aufgrund seiner großen Wandelbarkeit deutlich überrepräsentiert.

Motivationen

Eine Nische, die auch Ubuntu gezielt bedient, die Motivation dahinter hat der Community-Manager der Distribution, Jono Bacon, erst unlängst im Interview mit dem WebStandard folgendermaßen umrissen: "Es ist ein echter Markt, einer in dem die Distributionen Geld machen". Für das noch immer weitgehend vom Privatvermögen des Software-Milliardärs Mark Shuttleworth abhängige Projekt also ein durchaus logischer Investitionsbereich.

Unity

Bereits seit einigen Release gibt es denn parallel zur klassischen Ubuntu-Release immer auch eine eigene Netbook-Ausgabe. Mit Ubuntu 10.10 wird hier nun aber alles anders: In Form von "Unity" hat das hinter der Distribution stehende Unternehmen Canonical eine vollständig neue Oberfläche für die eigene Software geschrieben.

Ausblick

Doch damit noch nicht genug: Unity soll bereits mit Ubuntu 11.04 auch das Interface für die "normale" Desktop-Ausgabe bilden, insofern taugt der Blick auf die aktuelle Netbook-Release auch als eine Vorschau in die weitere Zukunft der Distribution. Einschränkend sei allerdings darauf hingewiesen, dass für die Desktop-Edition noch einige konzeptionelle Änderungen an Unity vorgenommen werden sollen, das Folgende also keineswegs 1:1 in "Natty Narwhal" landen wird.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Konzeptionell steht bei "Unity" zunächst mal ganz die Anpassung an die Netbook-typischen Rahmenbedingungen im Vordergrund, heißt in diesem Fall: Reduktion, Reduktion, Reduktion. Immerhin zeichnen sich entsprechende Geräte meist durch eine relativ geringe Bildschirmauflösung aus, das Interface sollte also möglichst wenig Platz verbrauchen, damit die eigentlichen Inhalte nicht in den Hintergrund gedrängt werden.

Global

Bei "Unity" äußert sich dies in Form eine Reihe von zentralen Design-Entscheidungen: So gibt es zunächst mal ein sogenanntes "Global Menu". Die sonst im Anwendungsfenster selbst befindliche Menüzeile entfällt, die entsprechende Funktionalität scheint statt dessen direkt im Panel auf. Wer sich hierbei an Mac OS X erinnert fühlt, hat damit natürlich nicht ganz unrecht.

Ausgenutzt

Noch einen Schritt weiter geht Unity, wenn das aktuell Fenster "maximiert" wird, also den gesamten Bildschirm ausfüllen soll: In diesem Fall entfällt nämlich sogar der Fensterrahmen, die sonst dort versammelten Steuerelemente werden ebenfalls ins Panel gehievt.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Im Vergleich zum GNOME-2.x-Desktop von Ubuntu beschränkt sich Unity auf ein einziges horizontales Panel, auch auf ein klassisches Startmenü verzichtet man. Statt dessen gibt es eine vertikale Leiste am linken Bildschirmrand, die den Schnellzugriff auf die wichtigsten Anwendungen und Funktionalitäten des Systems ermöglichen soll.

Tasks

Zusätzlich werden an dieser Stelle alle gerade laufenden Anwendungen gelistet, das Ganze fungiert also auch als Taskleiste. Wer will, kann die Programme dann über einen Rechtsklick gleich dauerhaft an dieser Stelle ablegen. Umgekehrt lassen sich solche Einträge wieder entfernen, in dem das betreffende Icon mit gedrücktem Mausknopf aus dem Panel gezogen wird. Wendet man diese Drag&Drop-Bewegung auf das Icon eines gerade laufenden Programms an, wird dieses zusätzlich auch gleich beendet.

Overlay

In der linken oberen Ecke des Bildschirms prangt ein Ubuntu-Logo, dessen Anklicken ein weiteres Konzept von Unity offenbart. Wird dann doch eine Art "Home Screen" eingeblendet, von dem aus die wichtigsten Anwendungskategorien, die aktuellen Dokumente und die Softwareverwaltung rasch zu erreichen sind.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Wer lieber gleich einen umfassenden Blick auf alle verfügbaren Programme nehmen will, klickt statt dessen auf ein weiter unten im "Side Panel" liegendes Icon. Die am meisten genutzten Anwendungen werden in dieser Übersicht prominent herausgehoben, ansonsten bedient man sich hier einer "flachen" Darstellung, die einfach nur nach dem Namen sortiert ist.

Kategorisch

Allerdings ist es auch möglich, die Aufzählung auf einzelne Kategorien einzuschränken, zu diesem Zwecke einfach die zugehörigen Stichwörter in der Zeile am oberen Bildschirmrand anklicken. Zusätzlich kann das gesamte Anwendungsspektrum einfach per Sucheingabe durchforstet werden - und zwar nicht nur das lokale. Werden hier doch neben bereits installierten Programmen auch gleich einige, passende Highlights aus dem weiteren Ubuntu-Ökosystem dargestellt.

Installation

Ein Klick auf einen solchen Eintrag ruft dann das Ubuntu Software Center auf, und schlägt dort gleich das entsprechende Programm zur Installation vor. Einen bestätigenden Klick und ein paar Sekunden später ist das Ganze dann schon auf der Platte gelandet - so einfach kann die Einrichtung neuer Anwendungen sein.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Etwas schade ist hingegen, dass man die Programmübersicht nicht gleich dazu nutzt, um hier gelistete Programme per Drag & Drop im Side Panel ablegen zu können. Auch ein Rechtsklick-Menü mit einer entsprechenden Option gibt es bisher nicht, im Sinne der Konsistenz des Interfaces würde beides wohl Sinn machen.

Files

Eine weitere Spezialansicht des Overlays nennt sich "Files and Folder" und ist der Ansatz von Unity zum Auffinden aktuell bearbeiteter Dateien. Von Haus aus werden hier die zuletzt genutzten Files chronologisch gelistet, über die Suchfunktion lässt sich dann aber auch älteren Dokumenten nachspüren. Als Basis für diese Funktionalität nutzt man übrigens das Zeitgeist-Framework, das genau mitprotokollieren kann, wann und wie lange die NutzerInnen mit welchen Programmen woran gearbeitet haben. Zeitgeist war ja ursprünglich als eine der neuen Technologien für GNOME3 in Diskussion, hat dort bisher aber noch nicht so recht seine Nische finden können.

Navigation

Wie der Name schon verrät werden unter "Files and Folders" zusätzlich noch diverse zentrale Verzeichnisse gelistet. Dabei kann dann auch gleich durch dies navigiert werden, eine Art Mini-File-Browser also. Für komplexere Aufgaben kann man dann ja wieder auf den schon von der Desktop-Ausgabe gewohnten Nautilus zurückgreifen.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Die Aufteilung in unterschiedliche Workspaces stellt bei Unix/Linux-Desktops schon von jeher eines der zentralen Konzepte zur Organisation des digitalen Alltags dar. Insofern nur konsequent, dass man diesen Ansatz bei Unity übernimmt, ein Klick auf den entsprechenden Knopf im Side Panel ruft denn auch eine Übersicht aller genutzten Arbeitsoberflächen auf.

Umsetzung

Die Programm lassen sich dabei per Drag & Drop zwischen den einzelnen Workspaces verschieben, nicht nur deswegen erinnert das Ganze etwas an entsprechende Funktionen in der GNOME Shell - und damit der schon etwas länger als Unity in Entwicklung befindlichen Oberfläche von GNOME3. Überhaupt scheinen sich die beiden Projekte derzeit stark gegenseitig zu beeinflussen, so ist etwa beim aktuellen Redesign der GNOME Shell eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Overlay von Unity nicht zu verleugnen.

Unterschiede

Dies ist an sich aber auch gar nichts schlechtes, immerhin visiert man nicht notwendigerweise die gleiche Zielgruppe an, während sich die Shell als allgemeiner Desktop versteht, fokusiert Unity - zumindest derzeit - ganz auf den Netbook-Bereich. Auch könnten aus der gegenseitigen "Inspiration" durchaus beide Projekte profitieren.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Um dies ganz klar zu machen: Sowohl Unity als auch die GNOME Shell setzen auf dem GNOME-Desktop auf, unter der Oberfläche werkeln also weitgehend die gleichen Komponenten. Bislang gilt dies sogar für die Grundlage des Interfaces, nutzen beide doch die Kombination aus der 3D-Bibliothek Clutter und dem Window Manager Mutter - wie sie auch bei der Netbook-Ausgabe von MeeGo eingesetzt wird. Damit soll mit Ubuntu 11.04 allerdings Schluss sein, aufgrund von Performance-Problemen - und dem fehlenden Know How, um diese selbst zu lösen - will man Unity künftig lieber auf dem bekannten Window/Compositing Manager Compiz aufsetzen.

Effektreich

Die Möglichkeiten der 3D-Funktionen aktueller Grafikkarten nutzt Unity aber schon jetzt weidlich aus: Praktisch alle Aktionen werden mit dezenten Effekten garniert, visuelle Hinweise, die aber in diesem Fall nie aufdringlich wirken. So werden die Suchergebnisse sanft eingeblendet, das Firefox-Icon wackelt auffällig, wenn im Hintergrund ein Link geöffnet wurde, die Kontextmenüs sind allesamt mit einer leichten Transparenz und einem Blur-Effekt versehen. Ebenfalls nett: Klickt man im seitlichen Panel auf das Icon eines Programms, bei dem aktuell mehrere Fenster geöffnet sind, werden diese in einer Expose-artigen Ansicht angeordnet.

Extern

Durchaus sinnvoll hat man auch das Management von externen Datenträgern gelöst: Wird ein entsprechendes Device angehängt, signalisiert Unity dies durch ein weiteres Icon für das Side Panel. Von dort aus gibt es dann den Zugriff auf die enthaltenen Inhalte, oder auch die Möglichkeit das Gerät wieder auszuhängen.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Während sich die Neuerungen der Desktop-Edition von Ubuntu 10.10 vor allem im Detailbereich abspielen, kann man dies über den Netbook-Abkömmling wahrlich nicht sagen: Mit "Unity" macht die Softwaresammlung einen bedeutenden Schritt nach vorne, das Interface wirkt - größtenteils - gut durchdacht, die optische Umsetzung ist top.

Buggy

Bei so viel Lob sei im Gegenzug aber auch nicht verschwiegen, dass man dem Netbook-Interface an einigen Stellen dann doch noch recht deutlich den Status einer ersten großen Release anmerkt. Um Darstellungsfehler zu finden, muss man nicht sonderlich lange suchen, seien es "lustige" Endloslisten wie im Bild oder ein Overlay, das schon mal zu Fehldarstellungen, fehlenden Icons und sich überlappenden Texten neigt. Auch die Suche ergibt nicht immer hundertprozentig reproduzierbare Ergebnisse. Andere Dinge fallen dann einfach in die Kategorie "unfertig": So versagt das "Global Menu" im Zusammenspiel mit dem Firefox, hier wird stur die gewohnte Menüleiste dargestellt. Der Versuch KDE-Anwendungen zu maximieren, zeitigt immer wieder überraschende Effekte - so kann man schon mal schnell bei einem Fenster ganz ohne Menü und Schließknöpfe landen.

Tests

Insofern ist die erste Release von Unity - auch wenn der Hersteller dies wohl anders sieht - derzeit eher noch als Beta zu klassifizieren, eine Beta, die aber einiges Potential für die Zukunft aufzeigt. Angesichts des derzeitigen Zustands und den weiteren geplanten Änderungen an der Oberfläche - unter anderem soll Unity noch barrierefrei gemacht werden - darf der Plan, Unity zum Default-Desktop-Interface von Ubuntu 11.04 zu machen, trotzdem getrost als "gewagt" bezeichnet werden.

Test

Eine Anmerkung zum  Schluss: Um Unity zu testen, bedarf es nicht notwendigerweise eines Netbooks, das Interface funktioniert tadellos auf normalen Ubuntu-Desktop-Systemen. Es reicht die nachträgliche Installation des "unity" benannten Pakets, zwischen Netbook- und Desktop-Interface kann dann beim Login nach Belieben gewechselt werden. (Andreas Proschofsky, derStandard.at, 26.10.10)

Screenshot: Andreas Proschofsky