Wien - Als Kind im Brasilien der 1950er-Jahre träumte Dilma Rousseff von einem Job als Ballerina, Feuerwehrfrau oder Trapezkünstlerin. Eine Karriere als Wirtschaftsboss oder Politikerin schien für ein Mädchen damals undenkbar. Niemals hätte sich die kleine Dilma träumen lassen, später in einem Land zu leben, in dem auch eine Frau Präsidentin werden kann.

So schreibt es Dilma Rousseff auf ihrer Webseite. Heute ist das damals Undenkbare Realität und Rousseff Präsidentin Brasiliens. In den vergangenen Jahren hat Lateinamerika sich gewandelt. In den wirtschaftlich dominanten Nationen Brasilien und Argentinien gibt es Staatschefinnen. Auch Mittelamerika regieren Frauen; zuletzt wählte Costa Rica mit Laura Chinchilla Anfang 2010 eine Frau an die Spitze.

Europa abgehängt

Niemals zuvor waren Frauen in der Politik Lateinamerikas so präsent. Ihr Anteil in den nationalen Parlamenten Nord- und Südamerikas liegt laut Angaben der Interparlamentarischen Union gemeinsam bei einem Viertel der Abgeordneten, zehn Jahre zuvor waren es nur 15 Prozent. Spitzenreiter des Kontinents sind Costa Rica und Argentinien. Rund 40 Prozent der Abgeordneten dort sind Frauen. In Europa sind es im Durchschnitt nur ein Fünftel der Abgeordneten.

Auch im Kampf um Bürgerrechte erheben die Frauen ihre Stimme. In Kuba protestieren die "Damen in Weiß" gegen die politische Haft ihrer Brüder, Männer und Söhne durch das Regime. Sie erinnern mit ihrem gewaltlosen Kampf an die "Mütter der Plaza de Mayo" in Buenos Aires, die mit ihrem jahrelangen Kampf um ihre "verschwundenen" Söhne letztlich 1983 die Militärdiktatur in Argentinien umzustürzen halfen. Mit der Bestellung der chilenischen Ex-Präsidentin Michelle Bachelet zur Chefin der UN-Frauenorganisation Unifem würdigte die Uno gleichsam das neue politische Gewicht der Frauen auf dem Kontinent.

Möglich gemacht wird der Aufstieg der Frauen in die Politik durch steigende Bildung und wirtschaftliche Entwicklung auf dem Kontinent. Längst schaffen - ebenso wie in Europa - mehr Frauen als Männer einen Schulabschluss. Rund 60 Prozent der Uni-Absolventen sind weiblich. Im Jahr 2005 war erstmals das Bildungsniveau beider Geschlechter etwa ausgeglichen, heißt es in einem Unifem-Bericht.

Die ökonomische Ungleichheit verkleinert sich schön langsam. Mittlerweile sind mehr als die Hälfte der Frauen des Kontinents erwerbstätig, deutlich mehr als noch vor zwei Jahrzehnten. Damit sinkt die Zahl der Frauen, die von männlichen Angehörigen abhängig sind. Nur noch ein Drittel aller Latinas verfügen laut Uno über kein eigenständiges Einkommen.

"Klebriger Fußboden"

Doch viele Frauen klagen über eine gläserne Decke oder über einen "klebrigen Fußboden", wie es in Uno-Berichten heißt. Spitzenjobs sind sehr oft nach wie vor Männersache. Und die schwache soziale Absicherung in vielen Staaten Lateinamerikas setzt Frauen einem doppelt so hohen Armutsrisiko aus wie Männer. Besonders schwer ist es für Frauen, die zugleich an ethnischer Diskriminierung leiden. Fast 90 Prozent der schwarzen Latinas werden laut Studien als arm eingestuft.

Als Hauptgrund für die anhaltende Benachteiligung von Frauen sehen Unifem und andere Frauengruppen nicht zuletzt den Mangel an politischem Willen. Dem könnten eine steigende Anzahl an Frauen in der Politik und die neuen weiblichen Staatsoberhäupter Südamerikas Abhilfe schaffen. (Alexander Fanta, DER STANDARD, Printausgabe, 2.11.2010)