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Leider ist am Burgtheater weitestgehend nur die Opfergeschichte eines naiven Mädchens zu sehen. Hier Thomas Reisinger (als Paulus Snyder) und Sarah Viktoria Frick (als Johanna Dark).

Foto: APA/HANS KLAUS TECHT

Wien - Brechts Johanna Dark ist eine Parodie auf Schillers Jeanne d'Arc, mit dem Unterschied, dass Erstere ganz pazifistisch denkt - eine Eigenschaft, die ihr zum Verhängnis wird. Johannas Kampf gilt 70.000 freigesetzten Arbeitern in den Schlachthöfen von Chicago, für die in Michael Thalheimers erster Burgtheater-Inszenierung ein vielköpfiger Sprechchor einsteht (sehr präzise, Chorleitung: Marcus Crome). Vom Glauben an einen guten Gott gestärkt, fordert sie (Sarah Viktoria Frick) vom Fleischerfabrikanten Mauler (Tilo Nest) Maßnahmen gegen die Verelendung der Fabriksarbeiter.

Die Perspektive dieses 1929/30 entstandenen Stückes mag in Zeiten, in denen öffentlich mehr über Tierschutz- und Schlachthausbestimmungen nachgedacht wird denn über ein Proletariat, anachronistisch erscheinen - auch da sich Prekariatsformen heute weitgehend auf andere Berufs- und soziale Schichten übertragen haben. Doch taugt Brechts Lehrstück (entstanden in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Emil Burri und Hermann Borchardt) im Kern immer noch dazu, Mechanismen der Ausbeutung freizulegen - und deren hässliche Zuspitzung unter den Vorzeichen von "Krise" und "Markteinbrüchen".

Faustischer Geschäftssinn

Was passiert? In wenigen Schachzügen sichert sich der Fleischkönig Pierpont Mauler seine Monopolstellung am Fleisch- und Viehmarkt der Union Stock Yards von Chicago. Hinter der Maske der Mitmenschlichkeit (sogar das Sterben der Ochsen rührt an sein Gemüt) treibt ihn sein faustischer Geschäftssinn zu Gewinnmaximierung und Lohndrücken. Ein Verlangen, das ihm auf der Bühne lebhaft in die Knochen fährt: Thalheimer-Figuren haben sich noch nie über handlungskonforme Gesten erklärt, sondern (und das macht die Besonderheit dieser entschlackten Arbeiten aus) in irritierenden, reduzierten physischen Mustern, durch die die einzelnen Rollen jeweils mehr als sich selbst repräsentieren. Von Woyzeck über Emilia Galotti bis Hauptmanns Ratten hat sich dieser Regiezugriff als neue, meisterhafte Handschrift im deutschsprachigen Theater etabliert. Mit Brecht lief das nun nicht so gut.

Nest erschafft seinen Mauler als windschiefen Typen, den im schimmernden Neureichen-Anzug kleine Siegestänze schütteln oder der vor seinem Makler Slift (Falk Rockstroh) in eigentümliche Lockerungsübungen verfällt. Doch verödet nebenher die Szene. Dem ohnehin aus abstrakten Redefiguren bestehenden Stück fügt Thalheimer eine weitere Abstrahierung auf der Bühne hinzu, die den wirtschaftstheoretischen und sozialpolitischen ("epischen") Sätzen weitgehend den Boden unter den Füßen wegzieht.

Das Stück - reich an Blankversen und nur zaghaft gekürzt - büßt an Mitteilsamkeit ein und bleibt reduziert auf die reichlich manieriert ausstaffierte Opfergeschichte eines naiven Mädchens. Sarah Viktoria Frick wechselt dabei in kindlichen Posen vom adrett in Puffärmelbluse und rosa Röckchen gekleideten Heilsarmeemädchen zum lungenkranken Gespenst. Hervorragend agiert Regina Fritsch als Frau Luckerniddle, die mit irrer Stimme echte Dringlichkeit in die Geschichte bringt.

Alles spielt in einem portalgroßen (liegenden, zum Publikum hin geöffneten) Metalltrichter eines Fleischwolfs (der Name Mauler leitet sich vom englischen to maul, zerfleischen, ab), in dem Bühnenbildner Olaf Altmann eine Rinderhälfte wie ein Pendel zweidreiviertel Stunden lang baumeln lässt. Allzu ästhetisch und genau betrachtet purer Kunstkitsch, der als Dekor dient. Mit Blick auf die bald zu Ende gehende Viennale darf man die These anführen, dass Ausbeutungssysteme, Abhängigkeitsverhältnisse und die Befreiung aus ihnen gegenwärtig viel ehrlicher im B-Movie verhandelt werden. Bertolt Brecht, inszeniert by Robert Rodriguez? Es wäre einen Versuch wert.

Auch die parodistischen Implementierungen Brechts (die Heilsarmee heißt hier immerhin "Die schwarzen Strohhüte"!) ignorierte Thalheimer. Bert Wredes infernalisch einschlagende Kirchenorgelmusik gab von Anfang an den dramatischen Ton vor, und das Publikum hielt in diesem durchgehend liturgischen Rahmen, so gut es ging, die Ohren steif. (Margarete Affenzeller, DER STANDARD/Printausgabe 2.11.2010)