Die schlafende Schöne durchlebt bei Märchenerzählerin Catherine Breillat lieber selbst Abenteuer, als auf den rettenden Prinzen zu warten: Julia Artamonov als kindliche Anastasia in "La belle endormie".

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"Meine Schwester galt als süßes kleines Mädchen, während ich als Junge wahrgenommen wurde": Catherine Breillat.

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STANDARD: "La belle endormie" ist Ihr zweiter Märchenfilm. Was reizt Sie an Märchen?

Breillat: Als wir klein waren, durften meine Schwester und ich fast nichts. Unsere Freunde durften uns nicht zu Hause besuchen. Das Einzige, was uns gestattet war, war, in die Bücherei unserer Kleinstadt zu gehen und Bücher auszuleihen. In der Stadt gab es wenig, aber die Bücherei war sehr groß, wir bekamen Märchen nicht nur aus Frankreich, sondern von überall her. Wir lasen die Bücher wieder und wieder, bis wir sie fast auswendig konnten. Und als wir zwölf waren, dachte sich unsere Mutter, dass es besser sei, früh zu lernen, als gar nicht zu lernen, und erlaubte uns, Bücher für Erwachsene auszuleihen.

STANDARD: Ihren ersten Märchenfilm "Barbe bleue", Blaubart, stellten Sie 2009 vor. Warum Blaubart?

Breillat: Weil mich dieses Märchen immer fasziniert hat. Es ist eigentlich für Erwachsene, denn es geht ja um einen Serienmörder, nicht um einen Oger oder um ein anderes Fabelwesen, nein, um einen echten Mann und um das Mädchen, das bei ihm bleibt und ihn liebt, obwohl es weiß, dass er ein Serienmörder ist. Das hat mich am meisten erstaunt: dass sie der Gefahr ins Gesicht sehen kann, dass sie mit ihren eigenen Ängsten und mit diesem Mann umgehen kann. Das ist ein sehr reiner und zugleich ein schrecklicher Aspekt der Geschichte. Der Schrecken und die Reinheit entstehen aus derselben Kraft und Intensität. Irgendwann war mir klar: Ich will daraus wirklich einen Film machen. Aber zwei Wochen bevor der Dreh beginnen sollte, hatte ich einen Gehirnschlag. Ich konnte ein Jahr lang nicht drehen.

STANDARD: Den Gehirnschlag erlitten Sie im Herbst 2004. Sie arbeiteten zu der Zeit auch an "Une vielle maîtresse" mit Asia Argento, nicht wahr?

Breillat: Ja, den musste ich unbedingt fertigstellen, es war ein Film mit einem hohen Budget, und ich musste beweisen, dass ich, trotz dessen, was mir passiert war, in der Lage war, einen Film zu machen. Erst danach konnte ich mit Barbe bleue beginnen. Als ich den dann fertig hatte und ihn bei der Berlinale vorstellte, dachte ich: "Warum nicht noch ein Film, der auf ein Märchen zurückgeht?" Es hatte mir solchen Spaß gemacht, ihn zu drehen und ihn zu zeigen.

STANDARD: Dachten Sie damals als Erstes an das Märchen "La belle endormie"?

Breillat: Nein, ich hatte Riquet mit dem Schopf im Sinn, ein französisches Märchen über einen Prinzen, der störrisches Haar hat. Alle halten ihn für hässlich, obwohl er ein charmanter Mensch ist. Nur: Wenn die anderen sagen, dass du hässlich bist, fühlst du dich auch hässlich. Ich habe mich selbst immer so gesehen: von den anderen ungeliebt, genau wie der Held dieses Märchens. Die Art und Weise, wie die anderen dich anblicken, kann dich verändern.

STANDARD: Aber dann entschieden Sie sich für den Dornröschen-Stoff.

Breillat: An La belle endormie hat mich nicht interessiert, dass die Heldin 100 Jahre schläft und dann als 16-Jährige aufwacht oder dass sie dann noch unschuldig ist. Dazu habe ich zu viele Filme über Heranwachsende gemacht. Ich wollte das Thema vertiefen, das ich schon in Barbe bleue behandele, nämlich dass Mädchen oft beigebracht bekommen, den Mann zu lieben, der sie töten wird. Und ich wollte, dass sich diese Mädchen wie heldenhafte Ritter verhalten. Dass sie sich den Herausforderungen der Welt stellen, Kämpfe ausfechten und gewinnen. Mädchen wird ja normalerweise eingebläut, unterwürfig zu sein, und diesen anderen Aspekt herauszustellen, das interessierte mich an La belle endormie. Außerdem erlaubt mir dieses Märchen, Beziehungen zu all den anderen Märchen, die ich als Kind las, herzustellen. In La belle endormie stecken Alice im Wunderland und Die Schneekönigin von Hans Christian Andersen. Andersen ist einer meiner Lieblingsautoren, weil er so düster ist.

STANDARD: Anastasia, die Heldin von "La belle endormie", nennt sich Vladimir. Will sie ein Junge sein?

Breillat: Nein, aber sie möchte den Mut und die Kühnheit haben, die Jungen normalerweise haben. Tiere bringen ihrem Nachwuchs bei, wie man mit den Gefahren des Lebens umgeht. Menschen hingegen erziehen Mädchen so, dass sie sich nicht verteidigen können. Ich halte davon nichts. Als ich ein Kind war, wollte ich kämpfen und Kriegsspiele spielen, aber ich war die Einzige in einem Heer von Jungen. Ich musste mir meine eigenen Waffen basteln, um an den Spielen teilzunehmen.

STANDARD: Wollten Sie ein Junge sein?

Breillat: Nein. Aber ich wollte an diesen Jungs-Spielen teilhaben. Ich erinnere mich auch daran, dass ich immer Blau trug, während meine Schwester Rosa trug. Ich sehnte mich nach rosafarbenen Kleidungsstücken. Das ist der Grund, warum die Farbe Blau in meinen Filmen so gut wie nie auftaucht. Meine Schwester galt als süßes kleines Mädchen, während ich als Junge wahrgenommen wurde. Sie sang sehr schön; wenn ich zu singen anfing, hielten sich die Leute die Ohren zu. Wenn sie tanzte, sah sie wie eine Ballerina aus. Ich fühlte mich bei meinen Tanzversuchen wie ein Elefant, ich war sehr ungeschickt, und ich wurde auch als Elefant gesehen. Dabei wollte ich unbedingt als kleines Mädchen gesehen werden. Aber ich wollte meine Persönlichkeit, meinen Charakter, mein Temperament deshalb nicht ändern. Selbst heute - ich meine, ich möchte diese Behinderung nicht haben, aber ich habe sie, und sie hindert mich daran, bestimmte Dinge zu tun. Zugleich gibt sie mir die Möglichkeit, andere Dinge zu tun. Mein Alltagsleben ist ein Albtraum, mein Glück liegt darin, Filme zu drehen, mich in meinen Fantasien zu bewegen und daraus Filme zu entwickeln. (Cristina Nord, DER STANDARD/Printausgabe 2.11.2010)