Minna Järvenpää: "Wahlbetrug ist zum Teil des Systems geworden, jeder macht es, jeder schaut, wie weit er gehen kann."

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Neun Jahre nach Beginn der Militärintervention in Afghanistan bewachen lokale Polizeikräfte die Straßen Kabuls, Präsident Hamid Karzai lacht zwar von Plakaten, seine faktische Macht ist aber außerhalb der Hauptstadt begrenzt.

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"Die Afghanen hingegen sahen den Einmarsch durch eine historische Brille, die Briten waren wieder Besatzer, die so wie in kolonialen Zeiten Helmand und Afghanistan besitzen wollen."

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"Die NATO arbeitet mit Annahmen, die nicht realistisch sind und keinen Bezug zur Realität im Land haben", sagt Minna Järvenpää. Die Finnin arbeitete fünf Jahre lang als politische Analystin für die UN-Mission UNAMA in Afghanistan – bis zum "Wahldebakel" 2009. Vor einem Jahr verließ sie, enttäuscht vom laxen Umgang des damaligen Missionschefs Kai Eide mit dem korrupten Karzai-Regime, die UNO. Bei einer hochkarätig besetzten Tagung der European Stability Initiative im Wiener Ringturm schilderte Järvenpää am vergangenen Freitag ihre Erfahrungen in Afghanistan. derStandard.at traf sie zum Interview.

derStandard.at: Der Westen sucht derzeit händeringend nach Hinweisen auf eine Verbesserung der Sicherheitslage in Afghanistan, um seine Truppen bald abziehen zu können. Überlässt man dadurch nicht die Bevölkerung den Taliban?

Minna Järvenpää: Ich bin durch die Erfahrungen der vergangenen fünf Jahre tatsächlich sehr pessimistisch, die Sicherheitslage hat sich signifikant verschlechtert, die Taliban sind heute in 33 der 34 Provinzen präsent und der Staat befindet sich auch durch die überall grassierende Korruption in einer prekären Lage. Seit der Abzug der internationalen Truppen greifbarer wird, hat sich die Korruption noch verschlimmert, weil danach weniger Geld ins Land fließen wird und die politischen Eliten versuchen, so viel wie möglich für sich abzuzweigen, solange es noch geht. Es gibt natürlich auch ein paar wenige Gründe für Optimismus, etwa spricht jeder immer über die Schulen und Krankenhäuser, die es zwar gibt, die aber fast alle in den beiden ersten Jahren nach dem Einmarsch gebaut wurden. Sicher geht es auch den Frauen, vor allem in Kabul, heute besser als unter den Taliban. Aber um einen echten Wandel in Afghanistan herbeizuführen, reicht die Zeit bis zum prognostizierten Abzug der Kampftruppen 2014 nicht aus. Die NATO arbeitet mit Annahmen, die nicht realistisch sind und keinen Bezug zur Realität im Land haben.

derStandard.at: Was braucht es?

Järvenpää: Vor allem einen klaren Fokus auf ein Friedensabkommen, nicht nur mit den Taliban. Es braucht eine breite Diskussion über die Art des Staates, in dem die Afghanen leben wollen. Wer nimmt am politischen Leben teil, wer hat Zugang zu Entscheidungsprozessen? Im Moment kontrolliert eine kleine Elite den Staat, die Paschtunen fühlen sich ausgegrenzt und schließen sich zum Teil den Taliban an. Ebenso müsste man die Bevölkerung des Nordens einbeziehen. Sobald diese Diskussion startet, gibt es bessere Chancen, dass Afghanistan nicht zerfällt, wenn wir abziehen.

derStandard.at: Gibt es Lehren aus dem Irakkrieg, die sich in Afghanistan anwenden lassen?

Järvenpää: Ich finde grundsätzlich nicht, dass ein Vergleich dieser beiden Länder hilfreich ist. Der Irak ist eine städtische Gesellschaft, in Afghanistan spielt sich ein Großteil der Kämpfe in ländlichen Gegenden ab. Ich bezweifle, dass die Strategie von (US-General und Befehlshaber, Anm.) Petraeus, in Afghanistan so wie im Irak einen Surge (Truppenaufstockung, Anm.) durchzuführen und danach abzuziehen, erfolgreich sein wird. Die einzige Lehre aus dem Irakkrieg ist, dass man keine Lehren aus anderen Konflikten nach Afghanistan bringen sollte, ohne die lokale Situation und die lokale Politik genau zu studieren.

derStandard.at: Ihrem früheren Chef, UN-Missionsleiter Kai Eide, wurde wiederholt vorgeworfen, nicht genug gegen die chronische Korruption im Umfeld des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai vorzugehen. Was hat sich seit Amtsantritt seines Nachfolgers Staffan de Mistura geändert?

Järvenpää: Ich war Teil der UNAMA, als sich der hässliche Konflikt zwischen Eide (siehe derStandard.at-Interview, Anm.) und seinem Stellvertreter Peter Galbraith (hier im Gespräch mit derStandard.at, Anm.) abgespielt hat. Die Führung der Mission hat das Vertrauen der Organisation verloren und das hat sich auf die Arbeit der UNAMA ausgewirkt. De Mistura hat die Organisation stabilisiert und darauf geachtet, gerade in Bezug auf die Wahlen in Afghanistan Besonnenheit walten zu lassen. Wir haben etwa nicht gleich Ergebnisse veröffentlicht, sondern zuerst abgewartet und betont, dass es jedenfalls schon ein Fortschritt ist, dass es überhaupt Wahlen gibt. Unter Eide gab es die Tendenz, eine Wahl sehr schnell als Erfolg zu bezeichnen, obwohl sich herausgestellt hat, dass sie fundamental gefälscht war.

derStandard.at: Der Generalstaatsanwalt Afghanistans hat unlängst von massivem Stimmenkauf in Dubai und Kabul berichtet. Fällt die Korruption auf die internationale Truppenpräsenz zurück?

Järvenpää: Der internationalen Gemeinschaft kann man durchaus einen Teil der Korruption anlasten, die Wahlfälschung gehört meiner Meinung nach nicht dazu. Die Wahl 2004 war gefälscht, die Wahl 2005 war gefälscht, die Wahl 2009 war besonders stark gefälscht und die Wahl 2010 noch mehr. Wahlbetrug ist zum Teil des Systems geworden, jeder macht es, jeder schaut, wie weit er gehen kann. Das kam auch nicht überraschend, dieses Jahr hat sich die Unabhängige Wahlkommission aber recht stark dafür eingesetzt, dass offensichtlich gekaufte Stimmen aus den Zählungen entfernt werden. Man versucht schon, zumindest im Nachhinein die schlimmsten Missstände zu korrigieren. Dass sich nun der Generalstaatsanwalt einmischt, ohne ein Mandat dafür zu haben, zeigt, wie politisch dieser Konflikt ist. Es würde mich überraschen, wenn er nicht vorher mit dem Präsidenten Absprachen getroffen hätte.

derStandard.at: Laut einer aktuellen Umfrage weiß kaum ein Afghane, warum die internationalen Truppen überhaupt im Land sind. Ist die westliche Propaganda komplett gescheitert?

Järvenpää: Es gibt auf jeden Fall einen deutlichen Mangel an Kommunikation. Während meiner ersten Monate war ich für die britische Regierung in der Provinz Helmand unterwegs und habe gemerkt, dass wir zwei verschiedene Sprachen sprechen. Wir, also die westlichen Kräfte, hatten im Sinne einer postmodernen Welt und fast schon altruistisch gedacht, wir kämen nach Afghanistan, um den Menschen beim Aufbau ihres Staates zu helfen. Die Afghanen hingegen sahen den Einmarsch durch eine historische Brille, die Briten waren wieder Besatzer, die so wie in kolonialen Zeiten Helmand und Afghanistan besitzen wollen. Diese zwei Narrative treffen sich einfach nicht, was auch sehr verständlich ist, wenn man die dreißig Jahre Krieg in Afghanistan betrachtet.

derStandard.at: Findet das Konzept der ausländischen Interventionen mit einem möglichen Scheitern am Hindukusch sein Ende?

Järvenpää: Diese Gefahr besteht sicherlich. Der Westen könnte sich wieder isolieren, spätestens dann, wenn die Geschichte die Irak-und Afghanistan-Einsätze als gescheitert bezeichnen wird, wovon ich ausgehe. Aber man muss schon unterscheiden, um welche Art von Intervention es sich handelt. Irak und Afghanistan waren keine humanitären Interventionen. Wir hätten aber zum Beispiel in Ruanda sein müssen, um den Genozid zu verhindern. Ich war auch in Bosnien überzeugt, das Richtige zu tun, nach Srebrenica den Krieg zu stoppen und die ethnische Säuberung zu revidieren. Ich halte es für gefährlich, wegen dem Scheitern in Afghanistan unseren moralischen Imperativ zu verleugnen, dass es manchmal richtig sein kann, einen Krieg durch Militärintervention zu beenden, wie es in Bosnien und dem Kosovo der Fall war. Es gibt aber kein Dogma, das sich auf jedes Land anwenden lässt. Scheitert eine Intervention, kann sie zu mehr Leid führen. Aber grundsätzlich ist das Konzept der ausländischen Intervention nicht tot. (flon/derStandard.at, 30.11.2010)