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Die Inderin Shobha Vakade, 28, konnte sich mit einem Mikrokredit über 18.000 Rupien (knapp 400 Euro) selbstständig machen, sie stellt in ihrem Haus in einem Slum von Mumbai Halskettchen aus Glasperlen her.

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Muhammad Yunus, Nobelpreisträger und Erfinder der Mikrokredite: "Wer mehr als 15 Prozent Zinsen nimmt, ist ein Kredithai."

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Arme Menschen mit Kleinstkrediten zu Unternehmern machen - diese Idee des Bangladescher Ökonomen Muhammad Yunus trat nach anfänglichen Schwierigkeiten, Geldgeber zu finden, rasch ihren Siegeszug um die Welt an. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Yunus im Jahr 2006 war daran wohl nicht ganz unschuldig. Die so genannten "Mikrokredite", die notwendige Investitionen in Betriebsmittel ermöglichen sollten, waren tatsächlich sehr effektiv und wurden schnell als das Allheilmittel gegen die weltweite Armut gefeiert.

Der rasende Siegeszug wurde aber nicht nur von altruistischen Geistern wie Yunus gelenkt; immer mehr gewinnorientierte Finanzunternehmen erkannten, dass sie an diesem Boom mitnaschen können, und stiegen in das Business ein. In der Folge verzeichnete der Sektor alljährlich dreistellige Wachstumsraten und bekam von der Finanzkrise bisher nicht den kleinsten Kratzer ab.

Gier entert Non-Profit-System

In Indien droht das gemeinschaftliche Streben nach Glück nun aber ein jähes Ende zu finden. Im größten Bundesstaat Andhra Pradesh, wo 80 Millionen Menschen leben - vorwiegend Kleinbauern und Landarbeiter -, könnten sich die Mikrokredit-Haie nun nämlich gehörig verspekuliert haben. Weil der Börsegang des Branchenprimus SKS Microfinance (an dem unter anderem auch der US-Hedgefonds Sequoia Capital und der Investor George Soros beteiligt sind) im August in Mumbai so erfolgreich war - 350 Millionen Dollar Erlös bei 14-facher Überzeichnung -, drängten auch andere Mikrokredit-Finanzierer an die Börse.

Die mit den Investoren einhergehende Gier nach Rendite brachte das von Yunus ursprünglich als Non-Profit-Investment gedachte System ins Wanken. Schuld daran war natürlich auch, dass eine weitere von Yunus' Maximen nicht mehr beachtet wurde: In vielen Fällen wurden die geliehenen Kleinstbeträge nicht mehr in den Aufbau eines Mikro-Unternehmens investiert, sondern für Konsumzwecke ausgegeben - oft auch für Hochzeiten oder schlicht dafür, um nicht verhungern zu müssen. Wie die Ratingagentur M-CRIL berichtet, wurden mit Mikrokrediten auch andere fällige Konsumkredite getilgt - also eine klassische Umschuldung vorgenommen.

Todsicheres Geschäft

Die Verwendung des Geldes wurde von den "kommerziellen" Mikrofinanzieren zu wenig kontrolliert - oder gar nicht, weil es ihnen egal war, was die Kreditnehmer in ihre Anträge schrieben. Die Zinsen für die Schuldner stiegen an, weil es für die neu in den Markt drängenden Finanzkonzerne als todsicheres Geschäft schien: Das um 8 oder 10 Prozent geliehene Geld wurde um Zinssätze jenseits der 30 Prozent - manche verlangten auch bis zu 60 Prozent - weitergegeben. Für die Kreditnehmer war das immer noch attraktiv, weil die lokalen Kredithaie davor immer noch wesentlich mehr verlangt hatten.

Das "todsichere" Geschäft bewahrheitete sich schließlich im tragischen Wortsinn: Skrupellose Geldeintreiber traten in Erscheinung, oft wurden Schuldnerinnen - meistens sind es Frauen, die die Kredite bekommen - in die Prostitution gedrängt. Meldungen über Selbstmorde von Kreditnehmerinnen, die ihre Raten nicht mehr bedienen konnten, machten fortan die Runde. Mehr als 30 solcher tragischer Fälle sollen in Andhra Pradesh schon gezählt worden sein. Hintergrund: Im Todesfall gilt ein Mikrokredit als getilgt.

Die Regierung des Bundesstaats Andhra Pradesh hielt Mitte Oktober eine Kabinettsitzung ab, in der das Problem diskutiert wurde. Dabei wurden neue Auflagen für die Branche erlassen, etwa eine Höchstgrenze für den Zinssatz von 27 Prozent. Außerdem wurde ein Rettungsfonds für angeschlagene Mikrokreditbanken ins Leben gerufen und verfügt, dass die Kreditraten nur noch monatlich, nicht mehr wöchentlich zu zahlen sind.

Sorgen werden international

Dennoch - oder gerade deshalb - verschärfte sich die Lage. Manche Regionalpolitiker riefen die Schuldner nämlich dazu auf, ihre hohen Raten nicht mehr zu bezahlen - was dazu führte, dass in Andhra Pradesh in den letzten Wochen nicht einmal mehr jeder zehnte Mikrokredit bedient wurde. Hält diese Situation an, steht die Branche vor gehörigen Liquiditätsengpässen. Auch deshalb, weil die indischen Banken, die den Mikrokredit-Sektor mit vier Milliarden Euro bisher zu 80 Prozent finanzierten, derzeit kaum noch Geld in den Sektor pumpen wollen.

Vijay Mahajan, Vorsitzender der Mikrokredit-Branchenorganisation MFIN, gesteht ein, dass manche Institute aggressiv vorgegangen seien, hält aber fest, dass nur ein Prozent der Kredite von Ausfall bedroht sei - genau jener geringe Prozentsatz, den auch Muhammad Yunus einst in seinem ersten Mikrokredit-Versuch in Bangladesh so beeindruckte, dass er sich schließlich ganz dem Aufbau des Mikrokreditwesens widmete.

Yunus: "Meine Idee bringt keine Menschen um"

In einem Interview mit der "Zeit" beteuerte Yunus kürzlich, dass die absurden Auswüchse der Branche in Indien auch nicht mehr viel mit seiner Idee zu tun hätten. "Wenn ein Mikrokredit Menschen in den Tod treibt, dann ist er falsch konzipiert", sagte er der deutschen Zeitung. "Dann hat er nichts mit meiner Ursprungsidee zu tun. Die bringt keine Menschen um." Man habe sich im Übrigen in Bangladesch auf eine simple Regel geeinigt, so Yunus - festgemacht an den Zinsen: " Im grünen Bereich liegen alle, die zehn Prozent Zinsen im Jahr nehmen. Bei fünfzehn Prozent sind sie im gelben Bereich. Wer mehr nimmt, ist ein Kredithai."

Manches indische Mikrofinanzinstitut hat auch bereits seine Zinsen gesenkt. Dennoch fürchten Behördenvertreter, dass sich die Probleme des Mikrofinanzwesens zur indischen Version der "subprime"-Krise der USA, die die jüngste Finanzkrise auslöste, auswachsen könnten. "Das Mikrofinanzwesen hat bereits Charakteristika der westlichen Finanzmärkte kurz vor der Krise angenommen", sagt Sanjay Sinha, Manager bei der Mikrofinanz-Ratingagentur M-CRIL.

Expertentrupp entsandt

Eine Expertengruppe internationaler Entwicklungsfinanzierer, koordiniert vom bei der Weltbank angesiedelten Forschungsinstitut CGAP, wurde laut "Handelsblatt" bereits nach Indien entsandt. Sie soll verhindern, dass die Krise von Andhra Pradesh - ohnehin die Hochburg des indischen Mikrofinanzwesens - auf ganz Indien übergreift.

Nun arbeitet man in Andhra Pradesh schon fieberhaft an einer effektiven Regulierung des Sektors, in Zusammenarbeit mit der NGO "Microfinance Transparency". Als erster Schritt ist eine Registrierung für Firmen, die Mikrokredite vergeben, angedacht.

Auch Yunus nimmt ganz klar die Behörden in die Pflicht. Es fehle in Indien an einer guten Regulierung. Eine funktionierende Regulierungsbehörde wie in Bangladesch sei nötig, so der Nobelpreisträger. Eine Art Zertifizierung, durchgeführt von ihm selbst, oder einen Zusammenschluss "guter" Organisationen lehnt er in dem Interview ab: "Dafür brauchen Sie den Staat und staatliche Behörden." (map, derStandard.at, 1.12.2010)