"Kinderbekommen und Familiengründen wird heute vielleicht ökonomischer gesehen als früher", sagt Rudolf Richter, Professor am Wiener Institut für Soziologie.

Foto: Richter

"Wer religiös sozialisiert wurde, bekommt tendenziell mehr Kinder als jemand der konfessionslos erzogen wurde", sagt Rudolf Richter, Professor für Soziologie am Wiener Institut für Soziologie. Mit Katrin Burgstaller sprach er darüber, warum die Geburtenraten sinken und was Politik und Wirtschaft dagegen tun können.

derStandard.at: Die neue Familienstaatssekretärin hat angekündigt, sie möchte den Frauen wieder Mut zu Kindern machen. Ist das notwendig? Sind die Frauen mutlos?

Richter: Es ist immer gut, wenn man Motivationsschritte setzt nur, glaube ich, dass zum Kinderbekommen nicht unbedingt Mut gemacht werden muss. Die Menschheitsgenerationen früher hatten nicht mehr Mut als unsere Frauen heute. Man muss Infrastrukturen und eine Umwelt schaffen, die es sinnvoll erscheinen lassen, Kinder groß zu ziehen. Mut hätten die Menschen. Es braucht die Möglichkeiten und das Bewusstsein dafür, dass es diese Möglichkeiten gibt.

derStandard.at: Noch vor wenigen Generationen wurde das Kinderkriegen scheinbar nicht so in Frage gestellt. War das früher selbstverständlicher?

Richter: Der Geburtenrückgang ist in einigen europäischen Ländern ein Thema. Unter anderem in Österreich und noch viel stärker in südlichen Ländern wie Spanien, Portugal und Griechenland. Weit weniger Thema ist der Geburtenrückgang in Frankreich und in skandinavischen Ländern und in den USA. Dort gibt es hohe Geburtenraten. Der Geburtenrückgang hat in Spanien und Portugal sicher andere Ursachen als in Deutschland und Österreich.

In den Niederlanden, wo es viele Geburten gibt, gab es sehr früh die Möglichkeit zur Halbtagsarbeit. Die Vereinbarkeit ist durch die Halbtagsquote erhöht worden. Die halbtägige Frauenerwerbsarbeit ist in Österreich erst langsam im Steigen. Der Wunsch nach Halbtagsarbeit war in Österreich lange Zeit höher, als er von der Politik oder Wirtschaft befriedigt wurde.

derStandard.at: Auch was die Karenzzeiten betrifft, gibt es erhebliche Unterschiede?

Richter: Die Karenzregelungen sind in Schweden ganz anders als bei uns. Es wird stärker auf väterliche Beteiligung geschaut. Andererseits gibt es weniger Karenzmonate die über einen längeren Zeitraum bis das Kind in die Volksschule geht, verteilt werden müssen. Dementsprechend steigen Eltern früh wieder in die Berufstätigkeit ein. Bei uns müssen bis zu drei Jahre Karenz in einem Stück in Anspruch genommen werden.

Österreich und Deutschland haben zudem ganz wenig Betreuungseinrichtungen für Kinder unter drei Jahren. Man ist mehr oder weniger gezwungen, die Kinder zu Hause zu betreuen. Vor zehn Jahren wurde in der Europäischen Union die Frage gestellt, "Ist es für Sie leicht, Kind und Beruf zu vereinbaren?". Die Menschen aus den skandinavischen und die südlichen Länder haben gesagt, ja, das ist ganz leicht. Menschen aus Deutschland und Österreich haben gemeint, das sei ganz besonders schwer, obwohl wir sehr viel Geld für Familien ausgeben. Es liegt also stark an den Strukturen, die bestimmte Verhaltensweisen fördern.

derStandard.at: Werden in Österreich die Kinder sozusagen "versteckt"? In vielen kinderfreundlichen Ländern ist es üblich, dass wichtige Geschäftstermine so gelegt werden, dass man die Kinder hinterher im Kindergarten abholen kann. Hierzulande werden wichtige Termine oft auch am Abend abgehalten.

Richter: Vor einigen Jahren haben wir gesagt, die Wirtschaft ist nicht kinderfeindlich, sondern ignorant gegenüber den Bedürfnissen von Familien. Da hat sich aber geändert. In Österreich werden familienfreundliche Betriebe ausgezeichnet. Aber man muss verstärkt zeigen, dass familienfreundliche Betriebe wirtschaftlich florieren können, und dass Frauen genauso wie Männer in Top-Management-Positionen Kinder haben können. Für diesen Teil der Bewusstseinsbildung ist nicht nur die Politik sondern auch die Wirtschaft zuständig.

derStandard.at: In Bezug auf das Kinderkriegen ist in erster Linie von den Frauen die Rede. Aber kann es sein, dass sich Männer stärker als früher darüber Gedanken machen, ob sie überhaupt Kinder in die Welt setzen wollen?

Richter: Kinderbekommen und Familiengründen werden heute vielleicht ökonomischer gesehen als früher. In den 60er Jahren waren die kinderreichsten Familien aus der Oberschicht und aus der Unterschicht. Ein ständiges Reden von Schwierigkeiten, von Problemen statt von Lösungen, die starke Betonung, dass die eigenen Bedürfnisse zurückgestellt werden müssen und die ökonomischen Unsicherheit sind sicher nicht motivationsfördernd zum Kinderkriegen. Wir haben auch Untersuchungen, wo man sieht, dass ein Großteil der Kinder gar nicht so geplant und rational zustande kommt, wie man vielleicht annehmen könnte. Das Bekommen von Kindern ist noch immer sehr stark eine emotionale Sache und nicht nur ökonomisch bestimmt.

derStandard.at: Kinder zu bekommen um die eigene Existenz abzusichern ist heute keine Motivation mehr?

Richter: Kinder dienen heute sicher nicht mehr der Existenzsicherung. Und es gibt die Tendenz, dass reiche Staaten weniger Kinder hervorbringen. Andererseits: Schweden ist ein vorbildlicher Wohlfahrtsstaat und dort gibt es sehr viele Kinder. Also daran alleine kann es nicht liegen.

derStandard.at: Oft wird ins Treffen geführt dass auch die Religiosität ein wichtiger Faktor ist. Sprich: Je religiöser eine Gesellschaft ist, desto mehr Kinder hat sie. Stimmt das?

Richter: Diese These stimmt. Erst kürzlich wurde dies von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im internationalem Zusammenhang bestätigt. Eine religiöse Verankerung ist förderlich für mehr Kinder. Wer religiös sozialisiert wurde, bekommt tendenziell mehr Kinder als jemand der konfessionslos erzogen wurde. Wobei die aktive Ausübung der Religion, etwa durch Kirchenbesuche weniger eine Rolle spielt. Ob die Religion selbst der Grund ist oder die Tatsache, dass es in kirchlichen Gemeinden Familienrunden gibt und man emotionale Unterstützung bekommt, ist eine zweite Frage.

Wichtig sind aber auch die Werthaltungen. Wenn man zum Beispiel Leute aus Schweden fragt, ob da Kind darunter leiden wird, wenn die Mutter in den ersten drei Jahren arbeiten geht, dann antworten zwischen 10 und 15 Prozent mit Ja. In Österreich sind das über 40 Prozent. Da ist ein sehr großer Unterschied. (Katrin Burgstaller, derStandard.at, 1. Dezember 2010)