Laut Berichten des Europarates hat jeder einzelne Asylwerber in Griechenland ein konkretes Risiko, Opfer willkürlicher Polizeigewalt, gefoltert und misshandelt zu werden. Eine Rückschiebung weitergereister Flüchtlinge nach Griechenland, wie es an sich die Dublin-II-Verordnung verlangt, verstößt daher gegen das Folterverbot in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat deshalb bereits in einer unüberschaubaren Anzahl von Einzelbeschwerden Rückschiebungen aus ganz Europa unterbunden. Nun hat der EGMR alle Staaten Europas, also auch Österreich, aufgefordert, Asylwerber, die über Griechenland nach Europa gelangt sind, derzeit generell nicht zurückzuschicken.

Zum Unterschied von anderen europäischen Staaten, wie Deutschland, Frankreich, der Schweiz, Großbritannien, Dänemark, den Niederlanden, Belgien und Norwegen, die der Aufforderung folgen, hat unsere Innenministerin entschieden, sich dem Ersuchen des EGMR zu widersetzen. Sie will nur in Einzelfällen, wenn es dem Asylwerber gelingt, seine konkrete Bedrohung nachzuweisen, die Rückschiebung aussetzen. Im Klartext heißt dies, dass weiterhin regelmäßig aus Österreich rückgeschoben wird. Asylwerber werden "befektert" (copyright Hans Rauscher).

Zu Recht führt Bürstmayr im Standard vom 19. 11. 2010 aus, dass jeder, der Menschen nach Griechenland abschiebt, die auf die Flüchtlinge wartenden Misshandlungen durch Folter, Faustschläge, Fußtritte und Stockhiebe in Kauf nimmt. Der griechische Asylrechtsanwalt Spyzos Koulaheri hat im ORF-Weltjournal am 27. 10. 2010 den Schluss daraus gezogen: "Jede Rückschiebung nach Griechenland ist ein Verbrechen!" Wer aber in Kauf nimmt, dass ein Verbrechen geschieht, handelt mit bedingtem Vorsatz (dolus eventualiter) und ist ebenso strafrechtlich zu verfolgen. Dies gilt auch für Minister.

Frau Fekter hat außerdem geflissentlich verschwiegen, dass sowohl der Irish High Court (zur Zahl C-493/10) als auch der englische High Royal Court of Justice (zur Zahl C-411/10) den Europäischen Gerichtshof ersucht haben, zu entscheiden, ob Rückschiebungen nach Griechenland generell nicht mehr zulässig sind. Tatsächlich verstößt derzeit jede Rückschiebung nach Griechenland gegen das Dublin-II-Abkommen, weil die Ratio dieser Verordnung gebrochen wurde: Es findet dort de facto kein Asylverfahren statt. Es fehlt an allem, was ein rechtsstaatliches Asylverfahren ausmacht. Ein Aufnahmesystem für Schutzsuchende ist nicht vorhanden. Die II. Instanz wurde im Sommer 2009 abgeschafft.

Schließt sich der EuGH der Rechtsmeinung des EGMR an, wovon auszugehen ist, darf kein EU-Staat Flüchtlinge nach Griechenland zurückschieben, will er sich nicht der Gefahr eines EU-Vertragsverletzungsverfahrens aussetzen.

Bereits die Einbringung des Ersuchens auf Vorabentscheidung durch einen EU-Staat führt zu einer Sperrwirkung für sämtliche anderen Mitgliedsstaaten. Das hat auch der VwGH in seinem Erkenntnis vom 20.12. 2007 zu GZ 2004/21/0319 entschieden: Während eines laufenden Verfahrens vor dem EuGH sollen keine vollendeten Tatsachen durch die Behörden der Mitgliedsstaaten geschaffen werden, welche nach Ablauf des Verfahrens in der Hauptsache zu nicht wieder gutzumachenden Schäden führen können.

Der Hades der Realität

Auch österreichischen Behörden ist es nicht mehr gestattet, Rückschiebungen nach Griechenland anzuordnen und durchzuführen, zumal Asylwerber nicht der Gefahr ausgesetzt werden dürfen, dass ihnen der Abschiebeschutz nur deshalb nicht mehr gewährt werden kann, weil sie bereits in den Hades der griechischen Realität verbracht wurden. Gesetzestreue Beamte müssen daher, um dem Vorwurf des Amtsmissbrauches zu entgehen, ihrer Innenministerin widersprechen und alle anhängigen Verfahren aussetzen, bis der EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen des irischen und britischen Höchstgerichtes entschieden hat.

Nach der Erklärung Fekters ist zu befürchten, dass die Asylbehörden in vorauseilendem Gehorsam weiter wie bisher mit den "griechischen" Asylwerbern umgehen werden.

Der EGMR hat deshalb angekündigt, ab sofort grundsätzlich jede einzelne derartige Rückschiebung zu unterbinden. Voraussetzung ist aber, dass der Betroffene eine Beschwerde beim EGMR einbringt und damit einen Antrag auf vorläufigen Rückschiebestopp im Sinne des § 39 VerfO verbindet. Von sich aus kann der EGMR nicht tätig werden. Die Flüchtlinge müssen deshalb informiert werden, dass sie sich durch ein solches Gesuch retten können!

NGOs und Asylanwälte sind aufgerufen, alles zu unternehmen, um die Asylwerber, denen die Gefahr der Rückschiebung nach Griechenland droht, über ihre Rechte zu informieren und ihnen nahezulegen, sich an den EGMR zu wenden und Soforthilfe zu beantragen. Gehen Sie in die Gefängnisse und klären Sie die Schubhäftlinge über ihre Rechte auf. (Georg Zanger, DER STANDARD; Printausgabe, 2.12.2010