Publikumsmagnet Wikileaks. Im übervollen Wiener Haus der Musik diskutierten Peter Pilz, Konrad Becker, Daniel Domscheit-Berg und Constanze Kurz (v. li.) mit Alexandra Föderl-Schmidt (ganz li.).

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Wien – Blogging ist der neue Journalismus und die direkteste Form der Demokratie. Das meinen die einen. Blogger haben doch keine Ahnung, wie brisante Rohdaten zu gesellschaftspolitisch relevanten, journalistischen Informationen zu verarbeiten seien, entgegnen die anderen. der Standard lud in Kooperation mit dem World Information Institute in das Wiener Haus der Musik, um Experten diese Frage diskutieren zu lassen. Dabei musste weniger der Journalismus als vielmehr „der Staat" Kritik einstecken.

„Es kann doch nicht sein, dass heute, im 21. Jahrhundert, das Amtsblatt der Wiener Zeitung tatsächlich die offizielle Schnittstelle zwischen dem Staat und den Bürgern ist", wetterte der Internet-Aktivist und Künstler Konrad Becker. „Es gibt heute eine neue Materialität von Kommunikation, das muss auch der Staat begreifen."

Peter Pilz, mit Geheimdokumenten aller Art bestens versierter Grün-Politiker, forderte gar einen verfassungsmäßigen Paradigmenwechsel: „Das Amtsgeheimnis darf nicht weiterhin die Regel bleiben. Nur in Ausnahmefällen ist die Geheimhaltung von Dokumenten gerechtfertigt und sinnvoll." Dazu zählen für den Parlamentarier etwa die Unterlagen des Kampusch-Verfahrens. Hier müsse der Personenschutz gewahrt bleiben. „Wir müssen die Verfassung auf den Kopf stellen", stellte Pilz eine Maximalforderung in den Raum und fand damit weder auf dem Podium noch im Publikum Widerspruch.
In die gleiche Richtung argumentierte Constanze Kurz vom deutschen Chaos Computer Club, der sich als größte Hackervereinigung in Europa bezeichnet und seit über 25 Jahren als Vermittler im Spannungsfeld technischer und sozialer Entwicklungen tätig ist.

Maschinenlesbare Regierung

In ihrer Zielsetzung geht Kurz mit Pilz und Becker konform, als Informatikerin hat sie freilich einen anderen Zugang: „Wir wollen die maschinenlesbare Regierung." Darunter sei der barrierefreie Zugang zu allen Dokumenten und Entscheidungsfindungsprozessen zu verstehen, in die eine Regierung – egal ob auf lokaler oder supranationaler Ebene – involviert ist, so die Informatikerin, die an der Humboldt-Universität in Berlin lehrt.
Die allfällige Forderung nach umfassenden Gesetzen für Blogger relativierte Kurz: „Ein Kodex wird nicht helfen. Manchmal wird die Publikation von Dokumenten ganz einfach zur persönlichen, moralischen Frage."

Die Diskussion drehte sich auch in der Folge nicht primär um Wikileaks und Julian Assange, denn die Enthüllungsplattform war für die Diskutanten nur ein Detail innerhalb eines ganzen Phänomens, des „Investigative Computing". Wikileaks sei eher zufällig – etwa durch das Video „Collateral Murder", in dem die Tötung zweier Journalisten durch eine US-Hubschraubereinheit gezeigt wird – zu großer Bekanntheit gekommen.

Und dieser Ruhm wurde zum Problem: Daniel Domscheit-Berg, jahrelang Assanges engster Mitstreiter, warf seinem Ex-Partner indirekt vor, die Prinzipien verraten zu haben. Daher habe er Wikileaks verlassen und sein eigenes Projekt, Openleaks, gestartet.

„Wir verstehen uns nicht als journalistische Entität, sondern als Anbieter einer technischen Lösung", erläuterte der Ex-Hacker. Nicht Openleaks bestimme, was mit den Daten geschehe, sondern derjenige, der in deren Besitz ist. Die Plattform sei kaum mehr als ein überaus spezialisierter Provider. Kooperationspartner sollen vor allem Medien sein, die für das jeweilige Thema eine besondere Kompetenz erbringen. Aber auch NGOs seien denkbar, Politiker hingegen eher nicht.
Domscheit-Bergs Konzept stieß bei Pilz auf Skepsis. „Glauben Sie wirklich, dass der Inhaber brisanter Informationen immer genau weiß, an wen er sich damit wenden soll?" Gelangten die Daten nämlich in die falschen Hände, könnte das Gegenteil des beabsichtigten Effekts eintreten.

Eine Diskussionsteilnehmerin aus dem Publikum erinnerte an Bradley Manning, jenen jungen IT-Spezialisten der US-Streitkräfte, dem vorgeworfen wird, tausende Dokumente entwendet und an Wikileaks weitergeleitet zu haben. Seit Mai 2010 sitzt der mutmaßliche „Whistleblower" in Einzelhaft. Domscheit-Berg zeigte Solidarität mit Manning, verwies aber darauf, dass die Möglichkeiten zu agieren sehr beschränkt seien. Man wusste auch bei Wikileaks niemals sicher, ob Manning tatsächlich ihr Informant gewesen sei. Das lasse sich technisch nicht restlos klären, da die digitalen Spuren wohl von einem Experten verwischt wurden.

Auch wenn es der Politik nicht passt, immer überprüfbar zu sein, werde sie sich dieser zeitgemäßen Forderung stellen müssen, befanden die Diskutanten. „Die Bürger werden immer durchsichtiger für eine immer intransparentere Gruppe", kritisierte Becker. „Das ist für mich Terrorismus, das muss sich ändern." (Gianluca Wallisch, DER STANDARD, Printausgabe, 2.3.2011)