Bild nicht mehr verfügbar.

"Das Unglück zog mich an, seit ich denken kann": Gerhard Roth.

Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Sein Roman "Orkus" birgt die Essenz eines Schriftstellerlebens: Gerhard Roth über das Wesen des Menschen und die Suche nach einer anderen Wirklichkeit. Adelbert Reif sprach mit dem Autor.

STANDARD: Herr Roth, es sind 20 Jahre her, dass Sie Ihren ersten Zyklus "Die Archive des Schweigens" beendet haben. Mit dem jetzt erscheinenden Band "Orkus - Reise zu den Toten" liegt der zweite Zyklus komplett vor. Beide zusammen ergeben ein enzyklopädisches Werk. Was empfinden Sie nach Jahren des Forschens, Schreibens und Erinnerns?

Roth: Ich habe diese 32 Jahre in einem Paralleluniversum gelebt. Ich habe mit Figuren gelebt, die meinem Kopf entsprungen sind und die dann einen eigenen Tod gefunden haben. Es war natürlich eine gewisse Trauer beim Beenden des Orkus-Buchs da. Gleichzeitig aber habe ich mit zunehmenden Jahren die Konstruktion beider Zyklen, die ich als eine Doppelhelix bezeichnen möchte, als Last empfunden. Das ging so weit, dass ich Schlafstörungen hatte und auch gegen Depressionen ankämpfen musste. Daher hatte ich mir in den letzten Jahren vorgenommen, den Zyklus abzuschließen, bevor ich 70 Jahre alt werde, und auf dieses Ziel hingearbeitet. So war ich über die Beendigung erst einmal erleichtert. Im Laufe des Korrigierens und Umarbeitens habe ich mich über die Arbeit auch von den Zyklen entfernt. Ich stand da wie jemand, der sich eine eigene Vergangenheit geschaffen hat.

STANDARD: Haben Sie die Vollendung des Zyklus als innere Befreiung empfunden, oder kehren die Orte und Gestalten in Ihren Erinnerungen oder Träumen immer wieder zurück?

Roth: In erster Linie war es eine Befreiung. Andererseits hatte ich all die Jahre immer etwas zu tun. Ich hatte nie das Problem, wie es mit meiner schriftstellerischen Arbeit weitergehen solle. Die Figuren waren da und durch das Schreiben haben sie sich entwickelt. Es gab nur ein vages Ende in meinem Kopf: Ich wollte mich zuletzt auch zu einer literarischen Figur machen, selbst zu Literatur werden. Als diese Situation schließlich eintrat, war das zugleich das Ende. In meinem Kopf aber geht das Ganze noch weiter. Wenn ich an die Zeit denke, in der ich an diesen zwei Romanzyklen gearbeitet habe, bereitet es mir oft Schwierigkeiten, meine erfundenen Figuren von den tatsächlichen Menschen, denen ich begegnet bin, zu trennen, weil sie für mich faktisch real geworden sind.

STANDARD: "Solange ich denken kann, zog mich das Unglück an - der Tod, der Selbstmord, das Verbrechen, der Hass, der Wahnsinn ... Im Unglück sehe ich das eigentliche Leben" , heißt es gleich auf einer der ersten Seiten von "Orkus" . Worin liegt für Sie das Faszinosum des menschlichen Unglücks?

Roth: Ich bin geboren als Sohn eines Arztes und einer Krankenschwesternschülerin. Schon als Kind sah ich in unserem Haus Menschen aus und ein gehen, die verwundet waren, geblutet haben, Schmerzen litten und unglücklich waren. Diese Erfahrung wurde ein Bestandteil meines Lebens, weil es auch der Gesprächsstoff meiner Eltern und meiner Großmutter war. Gab es einen schweren Fall, wurde nach dem Abendessen oft ausführlich darüber geredet. Es ging um Tod, Sterben, Schmerzen, oder wie lange jemand noch zu leben hat. Meine beiden Brüder waren von diesen Fragen weniger betroffen. Sie liefen einfach weg. Mich aber fesselten diese Gespräche. Ich hatte den Eindruck: Das ist die Welt, das ist Erwachsenenleben. Das will man von uns Kindern fernhalten. Auch wenn im Gespräch eine sexuelle Anspielung auf eine Geschlechtskrankheit fiel, wusste ich: Das sind die Geheimnisse der Erwachsenen, in die sie mich nicht Einblick nehmen lassen wollen.

STANDARD: Später kamen die historischen Unglücke, die Sie stark beschäftigt haben ...

Roth: Das historische Unglück schlug sich familiär nieder, weil mein Vater und meine Mutter Mitglieder der NSDAP waren und es in der Familie ein großes Schweigen darüber gab. Mein Vater wollte nach 1945 damit nichts mehr zu tun haben und drückte sich vor einer Auseinandersetzung. Wenn es irgendein Gespräch hätte geben sollen, unterband er es. Mit 15 oder 16 Jahren sah ich zufällig im Kino einen Dokumentarfilm über den Nürnberger Prozess. Wie der Großteil meiner Generation wusste ich damals gar nicht, was der Nürnberger Prozess war. Als ich die katastrophalen Bilder von Erschießungen sah und Ausgrabungen von Leichen, begann ich zu weinen. Völlig verstört lief ich nach Hause und verwickelte meinen Vater in ein Streitgespräch. Meine Auseinandersetzung mit den Eltern hielt bis zu ihrem Tod an. Ich hatte schon die Archive des Schweigens beendet und den Orkus-Zyklus begonnen, als sie starben. Erst ein, zwei Jahre später ging ich ins Staatsarchiv, um endlich Klarheit zu gewinnen. Es war für mich niederschmetternd, alles so festgehalten zu sehen, jedoch zugleich auch erleichternd, dass sie "nur" Mitläufer gewesen waren. Natürlich hatte ich die ganze Zeit über den Holocaust im Kopf.

STANDARD: Das markiert den Beginn von "Orkus" , in dem der Holocaust eine zentrale Stellung einnimmt. Und da heißt es nun: "Ich war überzeugt davon, dass das mühsame Nachvollziehen des Holocaust nicht ohne eine Untersuchung der Rolle des Unbewussten möglich ist ..."

Roth: Mit diesem Satz dehne ich den Holocaust aus auf die Befindlichkeit des Menschen. Auf der einen Seite war es wichtig, nach den gesellschaftlichen Ursachen zu suchen, warum es in Deutschland und Österreich zum Holocaust kommen konnte. Aber auf der anderen Seite stand immer die Frage, wozu ein Mensch fähig ist. Diese Fragen betreffen ganz allgemein das Verhalten der Menschen: Wie kann ein bis dahin unbescholtener Bürger eine Uniform anziehen, Morde begehen, die Uniform ausziehen, wieder ein normales Leben annehmen und so tun, als sei nichts geschehen. Ein weiteres Faktum ist der dringende Wunsch zu überleben. In einer Diktatur will es sich jeder so richten, dass nicht auch er den gewaltsamen Tod erleidet, den er täglich vor Augen hat. Eine Diktatur ist unauflöslich mit dem Opportunismus der Menschen verbunden. Im Nachhinein sind dann immer alle unschuldig gewesen, weil sie in ihrer Erinnerung die Zeit ihrer Zweifel am System, dem sie gedient haben, vergrößern. Dabei vergessen sie schließlich ihren Eifer, mit dem sie mitgemacht haben.

STANDARD: Ihr Werk quillt über von Geschichte und Geschichten in der Geschichte. Sie kommen darin immer wieder zurück auf das Verdrängen oder Verschweigen von Faschismus, Antisemitismus und Rassismus. Welche Erklärung haben Sie für dieses Phänomen?

Roth: Tatsache ist, dass das Patriarchat, auch bedingt durch die Monarchie in Österreich, sehr ausgeprägt war. In 650 Jahren Habsburger-Geschichte konnte es sich relativ ungestört erhalten. Es gab eine Machtpyramide mit dem Kaiser an der Spitze, gefolgt von den Adeligen bis hinunter zu den Leibeigenen. Eine ähnliche Machtpyramide gab es in der katholischen Kirche mit dem Papst an der Spitze. In der Beamtenschaft gab es sie und im Militär. Und in der Familie. Der Standpunkt des Vaters blieb bis etwa 25 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, bis zur 68er-Generation, für die ganze Familie dominierend. Es war auch der Vater gewesen, der mit den Nazis sympathisiert und den Krieg im Nachhinein noch glorifiziert hatte. Das betraf in gleichem Maß den anderen Versuch, den Nationalsozialismus durch Schweigen ungeschehen zu machen. Es fanden in den meisten Familien keine Auseinandersetzungen mit den Eltern statt. Nur dort, wo eine Auseinandersetzung stattfand, gab es tiefgreifendere Gedanken. Die Folge war zumeist eine lebenslange Auseinandersetzung mit den Eltern oder Großeltern. Wie konnten denn die lieben, guten Menschen diese politische Strömung bejahen? Darauf gab es keine zufriedenstellende Antwort. Die Antwort, die man hätte geben können, ist die Tatsache, dass Rassismus und Antisemitismus im Unbewussten der Menschen längst vorhanden waren, noch bevor Hitler sie in seine Ideologie aufnahm. Das Unbewusste gewann damals die Herrschaft über das Bewusstsein.

STANDARD: Ein Charakteristikum der österreichischen Gegenwartsliteratur scheint mir das Leiden ihrer Autoren an Österreich zu sein. Auch aus Ihren Büchern spricht dieses Leiden. Worauf führen Sie das zurück?

Roth: Für mich war Österreich vom ersten Augenblick an, als ich darüber zu schreiben begann, der Tatort eines ungeheuren Verbrechens, das hier mitentstanden und geschehen ist. Ich konnte nicht frei sagen: Jetzt ist meine Generation an der Reihe, und ich beschreibe meine Welt mit ihren Alltäglichkeiten, sondern unser Alltag war immer noch gefärbt von den Ungeheuerlichkeiten, die hier geschehen waren. So war es für mich unumgänglich, diese Geschehnisse immer wieder mitzureflektieren. Was passierte mit den Juden? Was mit den Geisteskranken? Was ereignete sich im Schloss Hartheim? Was geschah mit den Gegnern des Nationalsozialismus? Was mit den Künstlern der sogenannten "entarteten Kunst" ? Ich habe alles, worüber ich geschrieben habe, mit diesen Verbrechen verbunden. Gleichzeitig aber war das Schreiben darüber gegen die allgemeine Meinung im Land gerichtet, denn die Leute sahen sich als Opfer oder hatten sich längst selbst verziehen. Das Katholische in Österreich kam dem Vergessen und Verschweigen entgegen. In der Beichte zieht man selbst den Strich unter eine böse Tat. Der Priester befreit einen von der Schuld, und die Geschädigten sind von da an nicht mehr existent. Dieses Sich-selbst-Verzeihen spielte in der geistigen Entwicklung nach dem Nationalsozialismus eine große Rolle. Man stellte lieber die heroische Seite der Wiederaufbaugeneration heraus und schob alles andere zur Seite. Aber: Wo waren jetzt die Täter? Und: Was ist aus den Opfern geworden?

STANDARD: "Immer muss erst der Dichter kommen und sehen, wirklich sind nur die bedichteten Dinge" , schrieb Erhart Kästner in seiner "Stundentrommel vom heiligen Berg Athos" . Wird letzten Endes das, was verdrängt, verschwiegen und vergessen wurde, nur mehr durch die Literatur bewahrt?

Roth: Ich sehe die Weltgeschichte in der Literatur und Kunst sehr gut aufgehoben. Daraus kann man viel erkennen, auch aus der Glorifizierungskunst. Wenn ich an Homer denke, mit seiner wunderbaren Sprache, an Shakespeares Königsdramen und an Büchners Dantons Tod, an die großartigen Bücher von Tolstoi wie Krieg und Frieden, aber auch an Joseph Roths Radetzkymarsch und Kenzaburo Oes Reißt die Knospen ab, an Imre Kertész' Roman eines Schicksallosen und Günter Grass' Die Blechtrommel oder an Warlam Schalamows Auseinandersetzungen mit den Todeslagern Stalins, dann sehe ich viel eindringlichere Monumente der Erinnerungen, als die Geschichtsschreibung sie liefern kann. In der christlichen und in der jüdischen Mythologie war am Anfang das Wort. Und ich glaube, dass das dichterische Wort auch bestehen bleibt.

STANDARD: "Orkus" ist einer Ihrer komplexesten Texte. Einmal handelt er von Ihrer individuellen Vergangenheit, zum anderen von geschichtlichen Zeitläuften. Hinzu kommt eine Fülle von Bezügen zu Autoren der Weltliteratur und -philosophie. Von der Literaturkritik wird Ihr Werk häufig den Werken von Robert Musil, Hermann Broch, Heimito von Doderer oder Thomas Bernhard an die Seite gestellt. Sehen Sie sich in dieser Tradition?

Roth: Ich schätze alle Autoren, die Sie genannt haben, und habe mich intensiv mit ihrer Arbeit beschäftigt. Aber ich wollte etwas Neues und anderes machen. Ich wollte beispielsweise abrücken von der Darstellung großer Zeitepochen durch den Familienroman - und an seine Stelle eine Summe von Fragmenten setzen, die das Historische erst im Zusammenspiel vollständig erkennen lassen.

STANDARD: Könnte man "Orkus" als einen literarisch-autobiografischen Kommentar zur Geschichte Österreichs lesen?

Roth: Orkus ist ein Gemisch aus Fiktion und Realität. Die fiktiven Figuren meiner Romane erwachen im Buch zum Leben und treten in Verbindung mit realen Menschen, die ich beschreibe, wie Elias Canetti. Nicht alles, was an Realität im Buch beschrieben ist, ist Realität gewesen, und nicht alles, was Erfindung ist, ist nur Erfindung. Es geht um die literarische Wahrheit, nicht um Dokumentation.

STANDARD: Sie stellen in "Orkus" fest, dass "alle Sinnsysteme, Ideologien, Philosophien und ethischen Gebote und alle großen geistigen Strömungen" versagt hätten und dass die Fähigkeit zum Mord und zur Vernichtung den Menschen als zumeist versteckter Trieb innewohne. Das ist ein niederschmetterndes Fazit. Gibt es für Sie kein "Prinzip Hoffnung" ?

Roth: Merkwürdigerweise wird für mich mit den Jahren der Alltag die größte Hoffnung. Die politischen und religiösen Strömungen versuchten in bestimmten Momenten, den Menschen zu suggerieren, wir könnten das Paradies auf Erden schaffen. Entstanden sind daraus aber nur totalitäre Organisationen mit dem besonderen Merkmal der Paranoia. Das war beim Kommunismus genauso wie beim Nationalsozialismus. Auch das Christentum setzte das Rad der Gewalt in Gang. Immer wurde zur paradiesischen Idee auch die Hölle geschaffen. Und diese Höllen lähmen mit der Zeit so sehr, dass man am Schluss von den ganzen Welterlösungsideen nichts mehr wissen will.

STANDARD: Wie bringen Sie es fertig, dass Sie angesichts der Abgründe des Menschen, den Ihre Bücher offenbaren, nicht in Depression verfallen?

Roth: Pessimistisch bin ich. Daran habe ich mich gewöhnt. Depressionen hatte ich auch schon. Das waren wichtige Erfahrungen. Dadurch konnte ich Einblick nehmen in die Einsamkeit von Menschen, die eine Geisteskrankheit oder ein Nervenleiden haben. Andererseits möchte ich mir ersparen, die Welt erst schön zu finden, wenn ich todkrank bin. Das ist inzwischen so ein liebgewordenes Staunen geworden, wenn ich manchmal in der Früh sehe, wie schön ein Stück Wiese ist, ein Vogel auf einem Baum oder der Besuch eines Enkelkindes, das seine eigene Welt mit seinen Wünschen hat und diese mit Energie durchsetzt. Es ist langsam die "Gegenwelt" , die ich jetzt im Alltag finden kann und die mir Kraft gibt.

STANDARD: Am Ende Ihres Buches stellen Sie eine lange Liste von Namen derer auf, mit denen Sie während Ihrer "Reise zu den Toten" auf die eine oder andere Weise einen Dialog führten. Auch bei der Lektüre Ihrer anderen Bücher entsteht der Eindruck, Sie stünden mit dem Tod auf vertrautem Fuße. Wie nahe ist Ihnen der Tod?

Roth: Die Namensliste am Ende von Orkus entspricht dem Filmabspann. Wenn ich da in meiner Bibliothek mit den literarischen Werken, Bildbänden und CDs sitze, stelle ich fest, dass der Großteil der Künstler nicht mehr lebt. Man befindet sich in einem dauernden Gedankenaustausch mit der Welt der Toten, die auch ein Teil unserer Welt ist. Selbstverständlich bin ich jetzt dem Tod näher. Und interessanterweise lebe ich derzeit so gern wie nie zuvor. Als Jugendlicher und später mit dreißig Jahren hatte ich oft Selbstmordgedanken, auch noch mit vierzig. Das scheiterte zum einen an meiner Feigheit, und anderseits retteten mich die Verantwortung für andere Menschen und meine Sucht nach dem Schreiben. Die waren dann doch immer größer als die Verzweiflung. Beim Schreiben ist die Zeit aufgehoben, man geht ganz in der Zeitlosigkeit auf, vielleicht ist es das, was mich süchtig macht. Daraus habe ich jedenfalls viel Energie geschöpft, vielleicht sogar mehr, als es mich gekostet hat. (Adelbert Reif, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 2./3. April 2011)