Ian Morris: "Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden". € 25,60 / 656 Seiten. Campus-Verlag, Frankfurt/Main 2011

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Barack Obama made in China? Die in Washington gerne feilgebotenen Präsidentenfiguren illustrieren die Machtverlagerung in den Fernen Osten quasi plastisch. Dennoch: Historische Entwicklungen sind nie linear.

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Standard: Der Titel der englischen Ausgabe Ihres Buches lautet: 'Warum der Westen - noch - regiert'. Was macht Sie so sicher, dass das tatsächlich noch der Fall ist?

Morris: Ein Machttransfer in den Fernen Osten ist evident. Aber Europa und Nordamerika kommen immer noch auf zwei Drittel des weltweiten Bruttoinlandsprodukts, haben zwei Drittel der Waffen und geben zwei Drittel der Entwicklungshilfegelder aus, obwohl sie nur auf ein Siebtel der Weltbevölkerung kommen. Dazu kommen großes Finanzkapital, viele Patente und die weiterhin überwiegende Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Derzeit liegt die dominierende Macht noch im Westen. Aber das ändert sich rasend schnell.

Standard: Europäer und zunehmend auch Amerikaner sind skeptisch ihren eigenen Lebensmodellen gegenüber, die Asiaten dagegen strotzen vor Selbstbewusstsein. Einige Beobachter meinen, dass der Niedergang des Westens vor allem diesem Skeptizismus geschuldet ist. Ist er das?

Morris: Man muss fragen, warum das Selbstbewusstsein schwindet. Vor 100 Jahren noch waren Europäer und Amerikaner so dynamisch und selbstsicher wie die Chinesen heute. Der Prozess wird von tiefer liegenden Strömungen beeinflusst. Ich behaupte in meinem Buch, dass die Geografie in der Verteilung von Macht und Wohlstand eine zentrale Rolle spielt. Allerdings verändern sich die Gründe für Machtkonzentrationen auch mit sozialen Entwicklungen. Vor 100 Jahren waren Meerzugang und Kohlevorräte enorm wichtig, heute spielen sie eine viel kleinere Rolle. Das beeinflusst auch das kollektive Selbstbewusstsein. Die Europäer und etwas weniger die Amerikaner fühlen, dass ihnen die Macht aus den Händen gleitet, sie zweifeln an ihren Fähigkeiten und machen sich Sorgen.

Standard: Aber Zugang zur See hatten doch auch andere Völker über Jahrtausende.

Morris: Das stimmt. Auch Europa hat bis etwa 1400 nach Christus nicht viel aus seiner Lage am Meer gemacht. Erst mit neuen Schiffsbautechniken war es möglich, Schiffe zu konstruieren, die längere Distanzen zurücklegen konnten. Der Handel nahm Fahrt auf, der Atlantik schrumpfte gewissermaßen. Er war der perfekte Ozean für Handelsbeziehungen: Groß genug, um verschiedene Ressourcen zu bekommen, und gleichzeitig klein genug, um sich schnell zu bewegen. Der Pazifik dagegen war zu dieser Zeit noch viel zu groß, um erfolgreiche Handelsnetzwerke zu knüpfen. Also hatten die Europäer diesen relativen Vorteil. Mit zunehmender Technisierung des Systems - im 19. Jahrhundert - wurde auch Nordamerika miteinbezogen. Und langsam verlagerte sich das Zentrum des Westens nach Amerika. Heute schrumpft der Pazifik, Ostasien macht das Spiel. Das haben schon viele vorhergesehen, jetzt tritt die Prognose ein.

Standard: Das 21. Jahrhundert als das pazifische Jahrhundert ...

Morris: Es dauert, bis sich dieses Muster durchsetzt. Aber die Umwälzung hat begonnen. Entwickelten sich die Dinge linear, dann würde Ostasien bis zum Ende dieses Jahrhunderts zum Westen aufschließen. Aber so einfach ist es nie. Entwicklungstrends generieren andauernd auch Kräfte, die sie unterminieren. Das haben wir in der Geschichte immer wieder beobachten können. Wir sehen den Wohlstand in den Osten wandern, gleichzeitig gibt es riesige Völkerwanderungen, die niemand mehr kontrollieren kann. Wir werden vermehrt Epidemien, Hunger und den Zusammenbruch von Staaten vorfinden. Und alle diese Kollapsszenarien sind immer mit dem Klimawandel verbunden. Schon im Römischen Reich ist ein ähnlicher Zusammenbruch passiert, diesmal allerdings wird er um einiges größer sein.

Standard: Sie befassen sich mit 15.000 Jahren Geschichte, welche Rolle spielen dabei die wenigen Jahre der Digitalisierung?

Morris: Wir haben seit dem Ende der letzten Eiszeit immer wieder langsam wachsende Vernetzungen gesehen. Bei den Römern und in der Han-Dynastie in China hat diese große Gebiete umfasst. Weitere Beschleunigungspunkte waren der Schiffbau, der Buchdruck, die Industrielle Revolution mit Telegrafen und Dampfschiffen und dann natürlich die vergangenen 30 Jahre der Digitalisierung. Das ist in gewisser Weise eine Beschleunigungsstufe, wie wir sie schon zuvor beobachten konnten - mit dem Unterschied, dass die Geschwindigkeit stetig stieg. Heute stehen wir wieder vor einer solchen Stufe. Das Militär zum Beispiel ist ein guter Maßstab für solche Entwicklungen, weil Zukunftsfragen für Militärs Fragen von Leben und Tod sind. In den USA gibt es etwa die Defense Advanced Research Projects Agency, deren Forscher glauben, dass die Gehirne von Soldaten in 20 Jahren direkt mit dem Internet verbunden sein werden. Das ist schon ziemlich weit von Gutenberg und seiner Druckerpresse entfernt. Der Unterschied zwischen den wichtigen Trends der Vergangenheit und wichtigen Trends heute, ist die Geschwindigkeit, mit der sie sich durchsetzen. Und natürlich auch die Zahl der Menschen, die sich heute weltweit in einen solchen Trend einschalten können.

Standard: Was sind Ihre Prognosen, sagen wir, für die kommende 15 Jahre. In welcher Welt werden wir 2026 leben?

Morris: Wenn die Veränderungsgeschwindigkeit der letzten Jahre aufrecht bleibt, werden wir in den kommenden 100 Jahren mehr Wandel erleben, als wir in den vergangenen 100.000 Jahren gesehen haben. Wenn sich die Veränderungsindizes in meinem Buch so fortschreiben, werden wir zum Beispiel Städte mit 140 Millionen Einwohnern sehen. Oder Kriegstechniken, die Nuklearwaffen irrelevant werden lassen. Denken Sie an militärische Nanotechnologien oder Cyberkriegführung bis zum Punkt, dass ausschließlich unsere Maschinen Kriege für uns ausfechten, weil involvierte Menschen diesen Prozess nur verlangsamen würden. Hier kommen wir zu einer wichtigen Implikation all dieser Trends: Was uns von Tieren unterscheidet, ist, dass wir nicht nur eine biologische, sondern auch eine kulturelle Evolution durchgemacht haben. Inzwischen sind wir an einem Punkt angelangt, wo kulturelle Evolution in die biologische rückkoppelt. Wir sind heute 15 Zentimeter größer als unsere Vorfahren vor 100 Jahren, wir leben 30 Jahre länger und essen fünfmal besser. Wir erfahren einen dramatischen Wandel in unserer Biologie. Meine Freunde in Kalifornien reden ganz aufgeregt über die Fusion biologischer und maschinenbasierter Intelligenz. Wenn das tatsächlich zustande kommt, werden Menschen in 100 Jahren nicht mehr die sein, die sie einmal waren. Wir werden ein ganz anderes Tier sein. Oder sogar irrelevant werden. Eine Vision ist, dass die Maschinen ganz übernehmen.

Standard: Klingt nach "Matrix"-Szenario ...

Morris: Genau. Und wenn man die Dinge betrachtet, muss man sich fragen, wieso das eigentlich nicht passieren sollte. In der Geschichte wurden viele Hominidenstämme durch andere ersetzt, warum sollten die Maschinen uns nicht ersetzen?

Standard: Das jüngste Gericht für die Menschen, abgehalten von Maschinen?

Morris: Kommt drauf an, wie Sie es sehen. Als ich mein Buch geschrieben habe, hatte ich ein Weltuntergangsszenario vor Augen und ein tröstlicheres Szenario, in dem die Menschen etwas Neues aus sich machen. Manche finden Letzteres noch deprimierender. Was immer passiert, für mich ist es unwahrscheinlich, dass die Welt in 100 Jahren ähnlich strukturiert wie unsere sein wird. Vielen der Expertenbücher, die Prognosen über 2050 oder 2100 abgeben, fehlt ein Sinn für Geschichte. Diese Vorhersagen gehen von Veränderungen in einer prinzipiell gleichbleibenden Welt aus. Aber wenn ich mir irgendwo sicher bin, dann darin, dass es so nicht kommen wird. (Christoph Prantner/DER STANDARD, Printausgabe, 2./3. 4. 2011)