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Heu hat einen Effekt auf das Immunsystem, vermuten Wissenschaftler. Im Fokus: Arabinoglactan, ein Polysaccarid-(Zucker)-Molekül

Foto: APA/Jens Büttner

Die Qual ist längst zur Volksseuche geworden. Geschätzte 1,6 Millionen Österreicher leiden alljährlich unter Heuschnupfen, in Fachkreisen auch Pollinose genannt. Von den Fünfzigern bis etwa zur Jahrtausendwende ist die Zahl der Betroffenen stark gestiegen, erklärt die Allergologin Erika von Mutius vom Universitätsklinikum München gegenüber dem Standard. "In den reichen westlichen Ländern ist ein Plateau erreicht, in Entwicklungsländern dagegen nimmt Heuschnupfen weiter zu."

Man kann das Leiden behandeln. Es gibt vielerlei Mittel zur Symptomlinderung, und auch mit Desensibilisierungs-Therapien werden gewisse Erfolge erzielt, doch viel wünschenswerter wäre natürlich eine wirksame Form der Prophylaxe, praktisch wie eine Schutzimpfung. Weltweit suchen Forscher nach einer solchen Lösung - bislang leider ohne durchschlagenden Erfolg.

Im vergangenen Jahrzehnt ist Rohmilch immer wieder als mögliches Mittel zur Allergie-Abwehr im Gespräch gewesen. Der Hintergrund: Mehrere Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder und Jugendliche, die regelmäßig unbehandelte Kuhmilch trinken, deutlich seltener unter allergischen Krankheiten wie Heuschnupfen leiden, als ihre Supermarktware konsumierenden Altersgenossen dies tun. Der Effekt tritt womöglich sogar dann ein, wenn die Mütter während der Schwangerschaft Rohmilch oder daraus hergestellter Butter verzehren.

Worauf die Schutzwirkung basiert, ist noch unklar. Erika von Mutius und ihre Kollegin Charlotte Braun-Fahrländer von der Universität Basel haben die bisher vorliegenden Studienergebnisse verglichen und analysiert (vgl. Clinical and Experimental Allergy, Bd. 41, S. 29). Als potenzielle Wirkstoffe kämen unter anderem Milchserum-Proteine wie Lactoferrin und die Cytokine infrage. Sie haben einen regulierenden Einfluss auf das Immunsystem. Die Molekularstruktur solcher Eiweißsubstanzen wird bei starkem Erhitzen zerstört.

Für den sogenannten Bauernhof-Effekt, die geringere Allergie-Anfälligkeit von Kindern aus Bauernfamilien, könnte das Trinken von Rohmilch eine wichtige Rolle spielen. Von Mutius rät trotzdem dringend davon ab. "Es ist zu gefährlich." Unbehandelte Milch kann Krankheitserreger enthalten. Laut von Mutius geht die größte Bedrohung von enterohepatischen Kolibakterien aus. Sie befallen die inneren Organe. "Das führt dazu, dass Kinder auf die Intensivstation und zur Dialyse müssen", warnt die Medizinerin. Erst wenn man es schafft, das "aktive Prinzip" des Schutzes durch Rohmilch zu erkennen, könne es vielleicht gelingen, daraus sichere Medikamente herzustellen.

Der Stoff in Stängeln

Es gibt allerdings noch einen weiteren Ansatz zur Entwicklung von Allergie vorbeugenden Mitteln, der ebenfalls auf der Erforschung des Bauernhof-Effekts basiert. Der Stoff der Zukunft könnte Arabinogalactan heißen. Diese komplex gebaute Polysaccharid-(Zucker)-Moleküle finden sich in vielen verschiedenen Pflanzenspezies, in deren Pollen, Stängeln und Blättern. Auch Gräser der Arten Alopecurus pratensis und Holcus lanatus enthalten hohe Arabinogalactan-Konzentrationen, wie Erika von Mutius zusammen mit Wissenschaftern der Ruhr-Universität Bochum und des Forschungszentrums Borstel herausfand. Das Faszinierende daran: Solche Gräser werden auf traditionell wirtschaftenden Bauernhöfen in großen Mengen als Heu getrocknet, gelagert und verfüttert.

Laut Untersuchungen des deutschen Forscherteams enthält Stallstaub bis zu 13 Prozent Arabinogalactan. Die Experten testeten die Wirkung des Polysaccharids auf Mäusen und stellten begeistert fest, dass die Nager nach regelmäßigem Einatmen eines Arabinogalactan-Präparats oder Grasextrakts eine Art Schutz gegen allergische Reaktionen ent-wickelten (vgl. Journal of Allergy and Clinical Immunology, Bd. 126, S. 648). Dieser Effekt blieb jedoch aus, wenn die Tiere mit Arabinogalactan aus Lärchenholz oder Akazienharz behandelt wurden. Wahrscheinlich haben diese Varianten eine etwas andere Mole- kularstruktur, wodurch das Immunsystem nicht derart darauf reagiert.

Die Entdeckung lässt eine interessante Vermutung zu. Wenn Bauernkinder in Ställen und Heulagern spielen, atmen sie dabei zweifellos große Mengen Gräser-Arabinogalactan ein. Und sollte das menschliche Immunsystem darauf so reagieren wie das der Mäuse, dann käme so ein antiallergischer Schutz zustande. Enthält das Heu selbst also den Impfstoff gegen Heuschnupfen, ist dies das Geheimnis des Bauernhof-Effekts? "Es ist möglicherweise einer der Faktoren, aber gewiss nicht der einzige", meint von Mutius.

Immunsystem ankurbeln

Über welchen Mechanismus der Gräserbaustoff allergische Reaktionen hemmen kann, ist noch nicht ausreichend geklärt. Den Untersuchungen nach scheint Arabinogalactan aber die Produktion von Interleukin(IL)-10 durch die dendritischen Zellen anzukurbeln. IL-10 spielt im Immunsystem eine wichtige Rolle. Es aktiviert regulierende T-Zellen und hilft so, die Bildung von Allergien zu unterdrücken.

Vielleicht lässt sich die heilsame Wirkung von Heu zukünftig auch für Stadtkinder nutzbar machen. Zwei von Erika von Mutius' Kollegen haben inzwischen eine eigene Pharmafirma mit dem Namen Protectimmun gegründet. Diese versucht nun, den Einsatz von Arabinogalactan für therapeutische Zwecke weiterzuentwickeln. Mit Präparaten wäre allerdings erst in einigen Jahren zu rechnen - frühestens. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD Printausgabe, 02.05.2011)