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Breiter: "Die Gutachter der Verteidigung haben quasi den Prozess geführt." Kachelmann mit seinen Anwälten Johann Schwenn und Andrea Combe.

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Marion Breiter ist Psychotherapeutin, Sozialwissenschaftlerin und Universitätslektorin. Sie hat 1980 die erste Frauenberatungsstelle in Wien mitbegründet und 1995 die Dachorganisation "Netzwerk österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen" mit 57 Beratungsstellen in ganz Österreich mitinitiiert.

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Freispruch für Jörg Kachelmann. Aus Mangel an Beweisen wurde der Fernsehmoderator gestern nach 44 Verhandlungstagen vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen, ein sogenannter Freispruch zweiter Klasse, nach dem Grundsatz im Zweifel für den Angeklagten. Das freute die ZuhörerInnen im Mannheimer Landesgericht offenkundig, als das Gericht das Urteil verlas, gab es im Saal Applaus und Jubel.

Doch gibt es angesichts dieses Urteils und dem Verlauf des Prozesses seit März 2010 wirklich Grund zum Jubeln? dieStandard.at befragte dazu die Psychotherapeutin und Sozialwissenschaftlerin Marion Breiter, die in den 90ern eine Studie über Vergewaltigungsprozesse in Österreich veröffentlichte – bislang die einzige österreichische Studie zu diesem Thema.

dieStandard.at: Frau Breiter, gestern wurde das Urteil im Fall Kachelmann verkündet. Hat es sie überrascht?

Marion Breiter: Nein. Ich hab einen Freispruch erwartet, die Medienberichte waren klar auf Seiten des Angeklagten. Das ist oft ein Indiz dafür, wie das Urteil tatsächlich ausfällt. Außerdem haben die Gutachter der Verteidigung quasi den Prozess geführt. Der Richter hat sich sehr zurückgenommen und mehr oder weniger den VerteidigerInnen und ihren Gutachtern das Feld überlassen. Insofern war es zu erwarten, dass es im Sinne der Verteidigung ausgeht.

Die Gutachter der Verteidigung waren alle einhellig der Meinung, dass sich die Klägerin die Verletzungen selber beigebracht hat, während die Gutachter, die nicht von der Verteidigung bestellt waren, diese Frage offen gelassen haben: Es könnte Selbstverletzung gewesen sein oder sie könnten auch von jemand anderem stammen. Letztendlich ist man nach 44 Verhandlungstagen und neun Monaten dort gelandet, wo solche Prozesse meistens landen: Aussage steht gegen Aussage.

dieStandard.at: Aber eben eine dieser Aussagen musste die Klägerin revidieren, denn bei der ersten Vernehmung machte sie Angaben, die sie später berichtigen musste.

Breiter: Nach Gewalterfahrungen ist es sehr häufig so, dass in der Erinnerung die Dinge durcheinanderkommen. Natürlich auch, wenn keine traumatischen Erlebnisse vorliegen. Wenn Sie jemand genau befragen würde, was Sie am 30. Mai 2010 gemacht haben – da würden Sie sich wahrscheinlich auch in Widersprüche verwickeln. Aus der Traumaforschung wissen wir, dass Details oft nicht wahrgenommen werden. Für meine Studie über Vergewaltigungsprozesse in Österreich habe ich viele Vernehmungsprotokolle gelesen, und da kamen Fragen in der Art vor, ob die Schuhe des Gewalttäters braun oder schwarz waren. Wenn das Opfer einmal braun und einmal schwarz gesagt hat, hatte es sich schon in Widersprüche verwickelt. Solche Details werden aber für den Prozess durchaus herangezogen – obwohl ein traumatisierter Mensch oft sehr schlecht in der Lage ist, diese Details zu rekonstruieren.

dieStandard.at: Welche Ergebnisse der Studie passen noch auf den Fall Kachelmann?

Breiter: Bei Sexualdelikten handelt es sich um eines der "sichersten" Verbrechen. Es gibt wenig Beweise, es steht Aussage gegen Aussage und die Opfer verwickeln sich aufgrund ihrer Traumatisierung oft in Widersprüche. Zu guter Letzt haben auch die Täter oft die besseren finanziellen Voraussetzungen, auch der Angeklagte Kachelmann konnte sich natürlich einen Star-Verteidiger leisten. Das alles führt sehr oft zu Freisprüchen.

Als ich die Studie durchführte, war die Anzahl der Anzeigen sehr niedrig und man kann annehmen, dass die Dunkelziffer enorm ist. Frauen zeigen sexuelle Übergriffe nur sehr selten an, vor allem wenn es um Beziehungstäter geht. Auch die männlichen Opfer habe ich in der Studie berücksichtigt, bei ihnen ist die Dunkelziffer vermutlich noch höher.

Wenn man von den ohnehin nur geringen Anzeigen zu den Fällen übergeht, die vor Gericht landen und die bedingten Strafen und Freisprüche berücksichtig, dann landet man bei einer sehr geringen Zahl von einigermaßen empfindlichen Strafen für Sexualdelikte: weniger als zwei Prozent. Das war allerdings 1990 – ich kenne keine neuere Studie, es wäre aber Zeit, hier neue Zahlen vorzulegen.

Interessant an den Studienergebnissen war auch, dass RichterInnengremien – RichterInnen, StaatsanwältInnen und BeisitzerInnen – nur aus Männern bestehend, jeden zweiten Angeklagten freigesprochen haben. Wenn eine Frau im Gremium war, wurde hingegen nur jeder sechste freigesprochen.

dieStandard.at: Hat so ein Freispruch, wie der Kachelmanns, Auswirkungen auf die Bereitschaft von Frauen, Sexualdelikte zur Anzeige zu bringen?

Breiter: Das ist für Frauen, die Opfer wurden, natürlich entmutigend. Noch dazu, wie in diesem Fall, der so breit diskutiert wurde und das Opfer auch öffentlich runtergemacht wurde. Da macht es auch keinen Unterschied, dass der Freispruch nicht deshalb erfolgt ist, weil der Angeklagte so glaubwürdig ist, sondern weil die Beweise nicht ausgereicht haben – also im Zweifel für den Angeklagten.

dieStandard.at: Das reicht aber offenbar für Jubel im Gerichtsaal aus.

Breiter: Wenn ein Urteil, das aus Mangel an Beweisen erfolgt, mit Jubel begrüßt wird, ist das nicht im Sinne des Rechtsstaates. Es wird nicht gesehen, dass so etwas für die öffentliche und vor allem für die individuelle Sicherheit ein Problem ist – das ist eine Schwächung des Rechtstaates.

dieStandard.at: Es bleibt Ihrer Meinung nach somit nicht im Bewusstsein, dass der Fall Kachelmann letztendlich nicht geklärt werden konnte?

Breiter: Nein, das geht vermutlich bald völlig unter. Dem Angeklagten schadet somit diese Klage nicht, wie das aber immer behauptet wurde – ich bin ziemlich sicher, dass seine Karriere nicht beendet ist. Das Opfer ist hingegen schwer belastet, für sie muss der Prozess schon ein Wahnsinn gewesen sein. Denn es geht bei diesen Prozessen fast immer nur um die Glaubwürdigkeit des Opfers und die Strategie der Verteidigung ist die, das Opfer auf allen möglichen Ebenen herabzusetzten. Schlussendlich bleibt dann der Schluss übrig "das ist ein Flitscherl, dem kann man nicht trauen." So wird das noch immer betrieben, obwohl sich bei Sexualstrafdelikten in Österreich durchaus schon etwas getan hat.

dieStandard.at: Zum Beispiel?

Breiter: Opfer von Sexualdelikten dürfen z.B. nicht mehr nach ihrem sonstigen Sexualleben befragt werden, das war früher gang und gäbe. Ein Meilenstein des Opferschutzes in Österreich ist auch die Vernehmung des Opfers per Video, so dass es nicht mit dem Angeklagten in einem Raum sitzen muss. Seit einigen Jahren gibt es auch das Recht auf psychosozialen Beistand, wobei hierfür jedoch die finanziellen Rahmenbedingungen leider nicht immer gegeben sind.

dieStandard.at: In einer deutschen Talk-Show meinte ein ehemaliger deutscher Staatsanwalt im Zuge der Debatte um Strauss-Kahn, er würde seiner Tochter nicht raten, Anzeige zu erstatten, wenn sie Opfer eines Sexualdeliktes wäre.

Breiter: Das ist im Prinzip ein Freibrief für Sexualstraftaten. Aber es ist tatsächlich so, dass solche Gerichtsverfahren gerade für Opfer psychisch sehr belastend sind – das wissen die Betroffenen auch. Das ist einer der Gründe, warum es sehr unwahrscheinlich ist, dass eine Frau sich so einer Situation aussetzt ohne wirklich betroffen zu sein.

dieStandard.at: Wie geht man in der Beratungspraxis damit um? Raten Sie Frauen zur Polizei zu gehen?

Breiter: Man muss einer betroffenen Frau klar sagen, was mit einer Anzeige auf sie zukommt. In unseren Beratungsstellen wird keine Frau zur einer Anzeige gedrängt, auf der anderen Seite ist es aber unerträglich, die Situation so zu belassen. Man muss die Balance zwischen Ermutigung und realistischer Einschätzung eines Prozesses versuchen. Und wenn sich eine Frau zu einer Anzeige entschließt, muss sie rechtlich und psychologisch so gut wie nur möglich unterstützt werden – das ist extrem wichtig. (Die Fragen stellte Beate Hausbichler, dieStandard.at, 1. Juni 2011)