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Der türkische Ministerpräsident Erdogan im Wahlkampf im Städtchen Kastamonu nahe der Schwarzmeerküste.

Foto: EPA/CEM OZDEL ANATOLIAN AGENCY

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Kemal Kilicdaroglu, Chef der CHP, bei einer Wahlveranstaltung in Istanbul.

Foto: REUTERS/Murad Sezer

Yüksel Taşkın ist Politologe und hat an der Bosporus Universität in Istanbul studiert. Seit 2002 arbeitet er am Institut für Politikwissenschaft der Marmara Universität in Istanbul, seit 2009 als Privatdozent. Seine Forschungsschwerpunkte bilden Konservatismus, politischer Islam, soziale Bewegungen und Intellektuelle in der Türkei sowie die gesellschaftlichen Entwicklungen, die Politik und Jugend im Nahen Osten.

Foto: VIDC/Wiener Institut

Am 13. Juni wird in der Türkei ein neues Parlament gewählt. Knapp 53 Millionen Wahlberechtigte entscheiden über die Besetzung der 550 Sitze in der Großen Nationalversammlung zu Ankara. Eine politische Zeitenwende am Bosporus ist nicht zu erwarten. Alle Umfragen gehen von einem Sieg der seit 2003 regierenden, moderat-islamischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan aus. Der Istanbuler Politologe Yüksel Taskin von der Marmara-Universität war auf Einladung des Wiener Instituts für Internationalen Dialog und Zusammenarbeit in Wien und hat mit derStandard.at über das Wesen Erdogans gesprochen. Er geht von einem klaren Sieg der AKP aus und erklärt, warum er das so sieht.

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derStandard.at: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ist jetzt seit acht Jahren im Amt. Hat er Ruhe in die türkische Politik gebracht?

Yüksel Taskin: Es gab vorher schon drei Ministerpräsidenten in der Geschichte der türkischen Republik, die ähnlich lang im Amt waren. Adnan Menderes in den 1950er-Jahren wurde 1961 nach einer Militärintervention getötet, Süleyman Demirel und Turgut Özal waren in den Siebziger- und Achtzigerjahren auch lange im Amt. So wie sie ist auch Erdogan ein charismatischer Mitterechts-Politiker, gehört also jenem Typus Politiker an, der in der Türkei bestimmend ist. Im Gegensatz zu den drei anderen betont Erdogan aber viel offener seine muslimische Identität, ist viel religiöser.

derStandard.at: Ist Erdogan ein Demokrat?

Taskin: Er ist kein voll überzeugter Demokrat, aber das könnte man wohl auch von Silvio Berlusconi (Italiens Ministerpräsident, Anm.) sagen. Ich halte ihn für einen konservativen Populisten mit autoritären Zügen, aber er ist auch kein Antidemokrat. Was er vertritt, ist demokratisch. Er tritt für ein präsidiales System ein, was sehr gefährlich für die Türkei wäre. Erdogans Rivalen haben seit 2003 versucht, ihn mittels antidemokratischer Mittel von der Macht zu beseitigen. Das hat indirekt zu einer Demokratisierung der Türkei geführt. Die Zeit der Militärputsche ist jedenfalls vorbei.

derStandard.at: Inwiefern haben die säkularen Mitterechtsregierungen den Boden bereitet für Erdogan und seine moderat islamische AK Partei?

Taskin: Turgut Özal hat die Staatsinstitutionen für die ländliche muslimische Bevölkerung der Türkei geöffnet und hat die Wirtschaft auf die Globalisierung vorbereitet. Nach 1990 waren Gruppen anatolischer Geschäftsleute sehr flexibel wenn es darum ging, auf den Kollaps der Sowjetunion zu reagieren und daraus Profit zu schlagen. Die Wirtschaft verlangte damals nach kleinen und flexiblen Industrien und deren Chefs wurden schnell sehr mächtig, auch im Mediensektor. Sie unterstützten eine neue politische Klasse, eine junge Elite, die von der AKP repräsentiert wird. Diese Gruppen betrachteten den politischen Islam als rückständig und wenig erstrebenswert, die AKP erschien ihnen als gute Alternative, weil so moderat-konservative Muslime an die Macht kommen könnten. Dahinter stecken aber Klassendynamiken, kulturelle und wirtschaftliche Veränderungen.

derStandard.at: Sie sprechen von einer urbanen Türkei und einer ländlichen Türkei. Welcher Raum wird sich langfristig politisch durchsetzen?

Taskin: Heute dominiert der Westen, also die Region rund um Istanbul und die ägäische Küste das politische Leben in der Türkei. Dort ist die AKP stark, aber auch die Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP). Es herrscht Landflucht, was den Einfluss der konservativen, städtischen Eliten, und somit der AKP, vermutlich auf lange Zeit festigt. Die urbane Türkei wird weiter an Bedeutung gewinnen. Gewählt wird die AKP in den Städten aber vor allem von ärmeren Schichten und den Kurden. Wir wissen noch nicht, wer ihr Rivale wird, vielleicht die CHP, die in jüngster Zeit einen Kurswechsel Richtung EU und Richtung Demokratie gemacht hat. Schafft es die AKP, den Kurdenkonflikt zu beenden, könnte sie auf lange Sicht zu hegemonialen Kraft in der Türkei werden.

derStandard.at: Warum gibt es keine sozialistische Partei, die sich diesen verarmten Städtern als Alternative andient?

Taskin: So etwas gibt es in diesem Sinne nicht, die Kurden haben aber die Partei für Frieden und Demokratie, die in Umfragen bei etwa sechs Prozent liegt, sich aber beinahe selbstlos gegenüber linken, anti-nationalistischen türkischen Gruppen öffnet. Dieses Projekt könnte an die zehn Prozent bei Wahlen erreichen, sofern die einzige Bedingung erfüllt wird, nämlich das Ende des bewaffneten Kampfes. Die demographische Entwicklung könnte diese Partei in der Zukunft begünstigen.

derStandard.at: Warum wählen so viele Kurden trotzdem die AKP?

Taskin: In den vier Wahlen und den beiden Referenda seit 2000 hat die AKP fünf Mal gewonnen. Das bedeutet, dass sie von muslimischen Kurden und auch von Anhängern Masud Barzanis (irakischer Kurdenführer, Anm.) gewählt wurde. In den Städten unterstützen mehr als die Hälfte der Kurden die AKP, was damit zusammenhängt, dass sie eine weit sanftere Sprache spricht als die Parteien in den Neunzigern. Zusätzlich gibt es den muslimischen Zement, der Kurden und andere Gruppen in der Türkei verbindet. Interessanterweise gibt es gerade in den Kurdengebieten eine starke Frauenbewegung, es gibt in allen Institutionen und Organisationen Frauen in der Führungsspitze. 

derStandard.at: Gerade die Debatte um Kopftücher türkischer Frauen dominiert den Diskurs in Europa. Wie stehen Sie zu diesem Thema?

Taskin: Ist das Kopftuch erlaubt, wird es zu einem Detail, verbietet man es, wird das Tragen eines Kopftuches zu einem Akt des Widerstands gegen den Staat. Viele der kopftuchtragenden Frauen sind weit weniger konservativ als ihre Männer, viele heiraten spät, viele leben politisch sehr bewusst. Man darf nie den Fehler machen, diese Frauen geschlossen als konservativ zu betrachten. Dieses Thema wird auch in der Türkei sehr kontrovers diskutiert, die türkische Politik lebt schließlich stark von Symbolik, weniger vielleicht als im Iran, aber sicher mehr als in Österreich. 

derStandard.at: Erdogan versucht seit geraumer Zeit, die Türkei als regionales Machtzentrum zu vermarkten. Meinen Sie, er hat damit Erfolg?

Taskin: Erdogan spielt so mit einer anderen Art von Nationalismus, der nichts mit Ethnizität zu tun hat, sondern mit einer regionalen Führungsrolle, die den Stolz auf wirtschaftlichen Erfolg in den Vordergrund stellt. Damit fährt er zuhause und international recht gut. Das türkische Bruttoinlandsprodukt hat sich seit 2002 verfünffacht, der Erfolg ist aber bei weiten Teilen der Bevölkerung nicht angekommen. Erdogan hat es geschafft, den Türken eine Art Tunneleffekt zu suggerieren, der bedeutet, dass am Ende, nach all den Problemen, das Licht wartet. Die Menschen sind zwar reicher als früher, aber eben noch immer relativ arm. Erdogans Erfolg liegt darin, dass er Hoffnung erzeugt. Die Menschen sind sehr optimistisch und sehen in Erdogan auch kulturell ihren Vertreter, einen Mann der Peripherie, ein Kind früherer Einwanderer. Die Türkei will bis 2023, wenn die türkische Republik ihren 100. Jahrestag feiert, zu den zehn größten Wirtschaftsnationen der Welt gehören. Das ist in der Türkei sehr gut zu vermarkten. 

derStandard.at: Gehören zu dieser Hoffnungsstrategie auch Prestigeprojekte wie der geplante Istanbul-Kanal?

Taskin: Das ist ein sehr amerikanischer Zugang, vor einer Wahl Infrastrukturprojekte anzukündigen. Erdogan kann nicht über soziale oder politische Probleme sprechen, die wehtun. Darum spricht er lieber über diesen Kanal, über neue Wohnsiedlungen und dergleichen. Das ist eine typische Strategie der Mitterechts-Politiker in der Türkei. (flon/derStandard.at, 1.6.2011)