Vor allem bei bildungsfernen Schichten müssen wir uns viel Arbeit antun, sonst gehen uns unglaublich viele Talente verloren." Der Satz stammt nicht vom Bildungssprecher der Grünen oder der SPÖ, sondern vom Vorzeige-Genetiker und Paradewissenschafter Markus Hengstschläger. Seine größte Sorge ist die "Durchschnittsfalle" , in der wir uns seiner Meinung nach befinden.

Gerd Bacher hat es unlängst noch drastischer ausgedrückt: "Wir sind die Weltmeister der Mittelmäßigkeit", befand er.

Wie wenig wir dagegen unternehmen, zeigt die jüngst publizierte Studie "The Integration of the European Second Generation" . Die Untersuchung läuft schon seit zehn Jahren und betrifft die bildungsfernsten Schichten - die Migranten. Verglichen wurde die sog. "zweite Generation" bei uns mit jenen u. a. in Schweden, Frankreich und Belgien. Die Ergebnisse sind alles andere als berauschend. Hierzulande schaffen es gerade einmal 22 Prozent der zweiten Generation der Türken bis zur Matura und gar nur 14 Prozent bis zu einem Hochschulabschluss. In Schweden hingegen maturieren 57 % dieser Generation und 33 % machen zumindest einen Bachelor-Abschluss.

Fatale Grundhaltung

Ähnlich ist es in Frankreich und Belgien. Und das obwohl der Bildungsstand der Eltern in Österreich höher ist als in den anderen Ländern. Hierzulande hat jeder zweite türkische Vater eine achtjährige Schulbildung absolviert, in Schweden sind es nur 29 %. Woher kommt dann aber unsere Bildungsschwäche? Zunächst einmal aus unserer Grundhaltung: Bildungsferne Schichten interessieren uns seit jeher herzlich wenig. Und schon gar nicht, wenn sie türkisch sind. Andernfalls müssten wir nämlich besonders früh mit Bildungsmaßnahmen beginnen. Tun wir aber nicht. Während in Schweden 40 Prozent der Türken-Kinder bereits vor ihrem dritten Lebensjahr in eine Kinderkrippe gehen, sind es bei uns vier Prozent! Kein Wunder, bringen wir es bei den Kindern ohne Migrationshintergrund auch nur auf knapp zehn Prozent - in machen Bundesländern wie Niederösterreich und Steiermark gar nur auf vier bis seschs Prozent! Das frühe Beginnen, das international längst verbreitet ist, weil es vor allem den unteren Schichten jene Förderungen bringt, die andere von ihrem Elternhaus erhalten, ist bei uns ein Tabu. Weil es gegen die Familienvorstellung der Mittelschicht verstößt, die bildungspolitisch nach wie vor das Sagen hat.

Diese Gegnerschaft setzt sich fort. Wie die erwähnte Studie zeigt, sind echte, verschränkte Ganztagsschulen eine zweite wichtige Voraussetzung für die Förderung der Kinder aus bildungsfernen Schichten. In allen Vergleichsländern stellen solche Schulen den Regeltyp dar. Bei uns spricht man bestenfalls von Ganztagsbetreuung - also wieder: mit Stoff vollgestopfte Halbtagsschule am Vormittag, Spielen und maximal Hausaufgabenmachen am Nachmittag. Eine bildungspolitische Scheinreform.

Noch ärger ist es bei der dritten Voraussetzung für eine reale Chancengerechtigkeit, der gemeinsamen Schule bis zum 14./15. Lebensjahr. Die ist seit mehr als einem Jahrhundert gänzlich in den Strudel der ideologischen Kämpfe geraten. Die Gesamtschule gilt dabei als links, die frühe Selektion als konservativ. Das Ende dieses Streits ist noch nicht absehbar - wenn es auch bereits deutliche Zeichen der Veränderung gibt. Immerhin haben sich die Industrie, die Wirtschaftskammer, die Gewerkschaft und die Arbeiterkammer gegen die frühe Trennung der Kinder mit zehn Jahren ausgesprochen. OECD und EU machen immer stärkeren Druck für gemeinsame Schulen. Eine Studie der EU-Kommission hat gerade gezeigt, dass 35 von 43 europäischen Ländern eine solche Schule "für alle" haben, also 81 Prozent. Unter diesen Ländern befindet sich auch Südtirol, das man schwerlich als linkslastig bezeichnen kann. Durnwalder, der konservative Landeshauptmann, denkt nicht daran, die gemeinsame Schule aufzugeben.

Freilich wird meist schamhaft verschwiegen, dass eine Schule für alle nur funktioniert, wenn man den bisherigen Unterricht radikal ändert. Also von unserem theresianisch-preußischen Einheitsunterricht abgeht. Ein Maturant, der selber mit ausgezeichnetem Erfolg abgeschlossen hat, charakterisierte ihn so: "Wir haben acht Jahre Antworten auf Fragen bekommen, die keiner von uns gestellt hat." Nicht minder deutlich ist die Aussage des berühmten Tier-Cartoons. Ein Elefant, ein Löwe, eine Schlange und ein Vogel sitzen in der Schule. Sie bekommen alle dieselbe Aufgabe, nämlich möglichst rasch auf einen nahen Baum zu gelangen. Der Vogel ist natürlich der Erste, die Schlange schafft es auch noch gerade, aber schon mit erheblicher Verspätung, der Löwe muss auf halber Höhe das Handtuch werfen und der Elefant gibt nach einigen kläglichen Versuchen auf, ohne einen Zentimeter weitergekommen zu sein. - Der Vergleich mit der Situation unserer Schüler/innen liegt auf der Hand: Es geht beide Male um unterschiedliche Talente und Begabungen, die im System des frontalen Einheitsunterrichts keine Rolle spielen. Und diesen Unterricht gibt es nach jüngsten Befragungen immer noch zu mindestens 70 Prozent.

Spitzen frühzeitig fördern

Daher hat Hengstschläger völlig recht, wenn er den Schlüssel für die nötige Veränderung unserer Mittelmäßigkeitskultur in der möglichst frühzeitigen Entdeckung aller Begabungen sieht. Es müsse "alles getan werden, um die Spitzen zu entdecken und zu fördern" , fordert der Wissenschafter und fügt hinzu: "(Dafür) brauchen wir ein treffsicheres System, um herauszufinden, was jeder besonders gut kann."

Noch deutlicher ist in diesen Tagen der oberösterreichische Landeshauptmann geworden. Seiner Meinung ist es unerträglich, dass unsere Schülerinnen und Schüler 80 Prozent ihrer Zeit und ihrer Energie ausschließlich auf die Beschäftigung mit ihren Schwächen aufwenden müssen. Für die Entwicklung ihrer Stärken und ihrer Begabungen bliebe daher kaum noch etwas übrig.

Das sei die eigentliche Crux unserer Schulpolitk. "Ich verlange daher" , sagte Pühringer, "dass wir von unseren Defizit-Schulen wegkommen und Schulen einrichten, die sich in erster Linie mit den Stärken und den Talenten der Schülerinnen und Schüler beschäftigen." Statt der bisherigen Noten schlägt Pühringer ein Punktesystem vor, das die Stärken hoch bewertet, die Schwächen dagegen geringer, sodass man im Ergebnis ohne "Nicht genügend" auskommt. - Das ist ein sehr diskussionswürdiger Ansatz, der dem der Bundesregierung (Aufsteigen mit drei Nicht genügend) in vieler Hinsicht überlegen ist und die Absichten des Ausnahmewissenschafters Hengstschläger eindrucksvoll unterstützt. (Kommentar der anderen, DER STANDARD; Printausgabe, 2./3.7.2011)