Die Wirtschaft brummt - aber die Politik stockt. Seit das nationale Statistikamt diese Woche elf Prozent Plus für das erste Quartal des Jahres bekanntgegeben hat, feiert sich die Türkei als die weltweit am schnellsten wachsende Volkswirtschaft. Doch den politischen Neustart nach den Parlamentswahlen hat die Opposition verdorben. Nach den Kurden boykottiert auch die größte türkische Oppositionspartei, die säkulare Republikanische Volkyspartei (CHP), das neue Parlament. Auf die Frage eines Journalisten, wie lange das so gehen soll, antwortete CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu entschlossen: "Wenn es nötig ist, vier Jahre."

Insgesamt neun inhaftierte Politiker waren bei der Wahl am 12. Juni zugelassen, bekamen auch ein Abgeordnetenmandat, bleiben nun aber im Gefängnis. Bei der CHP geht es um den Chirurgen und Uni-Direktor Mehmet Haberal und um den Leiter des Ankara-Büros der stramm kemalistischen Tageszeitung Cumhuriyet, Mustafa Balbay. Beide Männer sitzen im Zusammenhang mit den Ermittlungen über die Umsturzpläne des angeblichen Geheimbundes Ergenekon seit mehr als zwei Jahren in Untersuchungshaft - ohne Anklage. Ihre parteiintern durchaus umstrittene Kandidatur war natürlich als Protest gegen die Justiz und die Regierung gedacht.

Dass die Sitzreihen im Parlament in Ankara die nächsten Wochen oder gar die gesamte Legislaturperiode leer bleiben, ist aber nicht recht vorstellbar. Die CHP hat 135 Abgeordnete, das Bündnis der Kurden gewann 36 Sitze; einer wurde ihr aberkannt und der AKP von Premier Tayyip Erdogan zugesprochen, was die Spannungen nur gesteigert hat. Staatschef Abdullah Gül hat sich nun eingeschaltet und mit Kilicdaroglu und dem Kurdenpolitiker Ahmet Türk gesprochen. Als möglicher Ausweg gilt die Änderung eines Strafgesetzartikels: Für eine Verhaftung soll nicht mehr ein "konkreter Verdacht" genügen, sondern ein "konkretes Indiz" nötig sein. (Markus Bernath aus Istanbul/DER STANDARD, Printausgabe, 2.7.2011)