Den vergangenen Herbst verbrachte ich mit meiner Tochter (damals 13) und meinem Sohn (damals 14) in New York, wo sie die High School besuchten. In dem angeblich so schlechten amerikanischen System lernten sie, wie man wissenschaftliche Essays schreibt, konnten aus vielen verschiedenen Sportarten wählen und an der Schule Instrumentalunterricht bekommen sowie im Orchester und der Band spielen. Bis 18 Uhr (der Unterricht dauerte bis 15 Uhr) konnten die Bibliothek und die Gemeinschaftsräume genutzt werden, ebenso der Sportplatz, die Turnhallen und der Hof. Es gab Beratungslehrer/innen und wöchentlich 2 Stunden, die Administration und Konfliktlösung gewidmet waren ("homeroom" ).

Meine Kinder bekamen am Ende des Wintersemesters Zeugnisse mit mündlicher Beurteilung und Noten - und hatten z. B. in Englisch, obwohl Ausländer, ein A - also ein "Sehr gut". In der mündlichen Beurteilung stand unter anderem, dass sie beide nicht gerne Hausübungen machen, aber dass das ihre Leistung nicht schmälerte. Daher bekamen sie die Bestnote.

Der Grundtenor des Unterrichts in den USA war: Positives verstärken, Schwächen erkennen und Hinweise geben, wie mit ihnen umgegangen werden kann. Künstlerische und sportliche Fächer galten ebenso viel wie die akademischen. Wer kein Talent in Mathematik oder Sprachen hatte, konnte sein Selbstwertgefühl z. B. mit Schauspiel, Yoga oder dem Erlernen eines Instruments wieder aufrichten. An der Schule wurde viel gelobt und respektvoll kritisiert. Satzanfänge wie "Wenn du das immer noch nicht kapiert hast ..." kamen uns nicht zu Ohren. Jede Lehrkraft konnte bei Frage zu Hausübungen jederzeit über E-Mail kontaktiert werden.

Zurück in Wien bekommt mein Sohn in Englisch nun "mit Müh und Not" wie sein Klassenvorstand sagt, "gerade noch" einen Vierer. Und warum? Weil er die Hausübungen nicht macht und die Bücher (Dickens! Für 15-Jährige!) nicht liest. Beide Kinder haben nach eigenem Empfinden in den USA mehr für die Schule getan als je zuvor. Phrasen wie "Ich habe keine Lust", "Wozu soll ich das machen?" habe ich dennoch nie gehört - jetzt gehören sie wieder zum Alltag.

Meine Tochter fragt verzweifelt: "Wie soll ich die Zentralmatura schaffen, wenn ich nicht lerne, wie man wissenschaftliche Arbeiten schreibt?"

Sicher nicht, indem man durch eine Änderung der Fünferpolitik ein demotivierendes Aufsteigersystem "verbessert". Stattdessen muss sich die Einstellung gegenüber den Kindern und Jugendlichen ändern: Sie sind die Erwachsenen von morgen und verdienen Respekt und Unterstützung. Es darf nicht Sache des Schülers sein, das Klassenziel zu erreichen, sondern es muss Aufgabe jedes Lehrers werden, alle Schüler so zu unterstützen, dass sie das Klassenziel erreichen können. Dabei müssen sie dem System entsprechend unterstützt werden,

Für eine Beurteilung nach Wohlverhalten wäre in so einem System sicher kein Platz. Stattdessen könnte man neue, spannende Aufgaben stellen, deren Erfüllung Spaß macht und das Selbstwertgefühl stärkt. (Kommentar der anderen, Sabine Nikolay, DER STANDARD; Printausgabe, 2./3.7.2011)