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In vielfältiger Gestalt, die gar nicht mehr computerlike ist, verwenden heute selbst Kinder und der Papst die digitale Technologie, die uns mit Gott und der Welt verbindet.

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STANDARD-Schwerpunkt Digital leben

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Sogar der Papst tut es. Dabei ist Benedikt XVI., der vor ein paar Wochen auf einem iPad seinen ersten Tweet an urbi und orbi schickte, alles andere als ein Digital Native. So werden jene Generationen genannt, die nach der Geburt des ersten IBM-PCs am 12. August 1981 auf die Welt gekommen sind und denen die Segnungen des digitalen Zeitalters so vertraut sein sollten wie den Indianern die Prärien Nordamerikas.

"Liebe Freunde, ich habe gerade news.va eröffnet, der Herr Jesus Christus sei gepriesen" , twitterte der 84-Jährige auf Englisch unter Anleitung von zwei Kardinälen. Dabei fing die heute päpsteleicht zu bedienende Technologie viel mühsamer an, als es der Tapser auf die "Sende" -Taste eines iPad-Displays erahnen lässt.

Am Anfang waren das A

Am Anfang waren das A: und ein blinkender Cursor, dem nur Initiierte in einer Geheimsprache zu befehlen wussten. Dann surrte und knarrte ein Diskettenlaufwerk, huschten Zeilen pixeliger weißer, grüner oder gelber Schrift über einen klobigen schwarzen Monitor. Selbst alltägliche Verrichtungen wie das Texteschreiben verlangte Furchtlosigkeit, umfassendes Geheimwissen und endlose Geduld, um durch Abstürze urplötzlich zunichtegemachte Arbeit wiederherzustellen.

Seither ist, in digitaler Zeitrechnung, eine kleine Ewigkeit vergangen. Nach Maßstäben der Facebook-Generation war der IBM-PC ein seelenloser Ziegelstein, mit dem man zwar Schreiben, Kalkulieren und Datenbanken erstellen und sogar primitive Spiele spielen konnte, aber er war ein Einzelgänger, unfähig zu kommunizieren, wusste nicht was Mail, Internet oder Twitter sind. Aber das Gerät, zusammen mit anderen wie dem Apple II davor und zahlreichen "clones" danach, fand rasche Verbreitung und legte den Grundstein für die digitale Transformation.

Harry Potter

Selbst eine literarische Zaubermeisterin wie J. K. Rowling konnte sich nicht vorstellen, welche Magie die digitale Ära bereithalten sollte, als sie 1997 Harry Potter vom Bahnsteig 9 3/4 aus auf seine lange literarische Reise schickte. Ein Jahr bevor Google online ging, mussten sich Zauberlehrlinge zu langwierigen Recherchen in Hogwarts' Bibliothek begeben; der Gedanke, alle Information der Welt auf einem magischen Tablet in Bruchteilen einer Sekunde zu finden, hätte sogar die Fantasie von Potter-Fans überfordert, sinniert Adam Gopnik im New Yorker. Heuer wird J.K. Rowling ihre sieben Potter-Bücher selbst in digitaler Form herausbringen - auch das eine vor 15 Jahren unvorstellbare Revolution.

Diese Umwälzung hat bereits die Aushängeschilder der Buchkultur gefressen, vielbändige Lexika wie den Brockhaus, zwei Jahrhunderte lang Inbegriff von Universalbildung und edlem Buchdruck. In weniger als einer Dekade hat das 270-sprachige Wikipedia den altehrwürdigen Lexika die Luft zum Atmen genommen. Nicht nur das gedruckte Buch verschwand, auch die Erarbeitung des Wissens hat sich radikal geändert: Statt von einem elitären Klub an Experten und Redakteuren werden Inhalte mittels Crowdsourcing durch ein Freiwilligenheer erstellt.

Kein Lebensbereich unberührt

In den 30 Jahren, die zwischen dem wortkargen A: des ersten IBM-PC und dem päpstlichen Segen über die weltweite Twitter-Community liegen, blieb kein Lebensbereich, der nicht durch die Digitalisierung grundlegend berührt und verändert wurde. Wo früher der Wecker rasselte, weckt heute ein Handy seine Besitzerin oder seinen Besitzer. Beim Frühstück stehen Medien aus aller Welt bereit - wenn nicht zuerst der Status von "FreundInnen" gecheckt wird. Ausweitung der Sonntagsöffnung? Geshoppt wird ohnedies seit Jahren rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr online. So wie auch die Bankfiliale im Netz ständig offen hat. Selbst beim Biobauern steuert der Computer den richtigen Futtermittelmix für das Vieh, werden Förderungen über das Netz abgewickelt und ermöglicht komplexe Logistik den Vertrieb.

Die digitale Revolution erfasste nicht nur die reichen industrialisierten Länder, sondern ebenso Entwicklungs- und Schwellenländer. Welche analogen Folgen es hat, wenn unterdrückte Menschen im Cyberspace Freiräume zur Verständigung finden, verfolgt eine atemlose Welt derzeit in Nordafrika und im arabischen Raum. Handy und Mobilfunk bringen nicht nur politische Bewegung, sondern auch Wohlstand: In Indien wie in Afrika finden Millionen Menschen bessere Möglichkeiten, ihre Arbeit und ihre Dienstleistungen zu verkaufen; Zahlungen werden über SMS abgewickelt, wo es keine Banken gibt. Mobile Gesundheitsdienste mit Smartphone-Unterstützung helfen, wo der nächste Arzt oder das nächste Spital Tagesreisen entfernt sind.

Digitale Revolution

Es wäre Unsinn, die digitale Revolution als die größte Erfindung aller Zeiten zu preisen. Das Rad, der Buchdruck, Dampfmaschine, Eisenbahn, Elektrizität: Jede dieser Entwicklungen steht auf den Schultern der vorherigen und eröffnet neue Möglichkeiten - und entdeckt immer wieder aufs Neue, dass Technologie allein nicht menschliche Probleme löst: Diktatoren, Stalker und Betrüger finden ebenso wie die Zivilgesellschaft, unsere Freunde oder Entrepreneurs im digitalen Raum ein reiches Betätigungsfeld.

Als Juri Gagarin 1961 als erster Mensch die Erde umrundete und Neil Armstrong 1969 seinen kleinen Schritt von der Fähre auf den Mondboden machte, stand ihnen bedeutend weniger Computerleistung zur Verfügung als heute einem Haushalt. Bis auf weiteres werden Menschen nicht mehr weit ins All fliegen - dafür bringt uns digitale Technologie die Menschen dieser Erde immer näher. (Helmut Spudich, DER STANDARD Printausgabe, 12. August 2011)