Spötter haben bereits einen seltsam klingenden Namen für die jüngste Datenaffäre gefunden: In einer sarkastischen Dopplung nennen sie die gänzlich unzensierte Veröffentlichung jener 250.000 US-Depeschen, die Wikileaks nun knapp ein Jahr lang zitzerlweise ins Internet gestellt hat, "Cablegate-Gate". Denn seit wenigen Tagen sind alle Datensätze online - mit den Klarnamen von weltweit rund 100 Informanten der Vereinigten Staaten, die nun um Leib und Leben fürchten müssen. Damit erleben die Propagandisten radikaler Transparenz ihre eigene Leck-Offenbarung. Und ihr Chef Julian Assange, der so eitle wie umstrittene Netzanarchist, segelt mit noch größerer Glaubwürdigkeits-Schlagseite durch die Weltöffentlichkeit als bisher.

Aus welchen Gründen - Schlamperei, Größenwahn, Zufall - auch immer die Daten unredigiert ins Netz gelangt sind - es ist völlig klar, dass Assange und seine Wikileaks-Konsorten das Depeschen-Desaster hätten verhindern müssen und nun für die Folgen verantwortlich sind. Bedeutet das aber auch gleich, dass es besser gewesen wäre, wenn diese Dokumente gar nie an die Öffentlichkeit gekommen wären?

Absolut nein.

Die Bürger haben das Recht darauf, zu erfahren, was ihre Regierungen in ihrem Namen unternehmen, wie sie Verhältnisse einschätzen, wo sie zu welchem Zweck intervenieren. Auch wenn viele der US-Depeschen weitgehend belangloser Tratsch sein mögen - es gibt keinen vernünftigen Grund, sogenannte Whistleblower grundsätzlich zu verteufeln. Und selbst Wikileaks hat vor den besagten US-Kabeln sehr aufschlussreiche Berichte etwa über die Kriege in Afghanistan und den Irak online gestellt. Ohne diese wären einige unschöne Dinge nicht bekanntgeworden.

Auch wenn die USA sich nun alle Mühe geben, dies zu insinuieren: Der Fehler war nicht, dass die Dokumente veröffentlicht wurden, sondern wie sie veröffentlicht wurden. Der Fehler war nicht die angestrebte Transparenz, sondern der unprofessionelle Umgang damit.

In Zeiten, als das Internet noch nicht die Verbreitung und Wirksamkeit hatte wie heute, wurde Aufdeckerarbeit noch beinahe ausschließlich von Journalisten nach mehr oder minder professionellen Standards erledigt. Bis zur Veröffentlichung etwa der von Daniel Ellsberg kopierten "Pentagon Papers" Anfang der 1970er Jahre vergingen Monate. Die New York Times prüfte das Material damals mit enormem Aufwand, stellte es in einen Bedeutungszusammenhang und schützte vor allem ihre Informanten. Wenige Jahre später verfuhr die Washington Post im Watergate-Skandal, der Präsident Nixon sein Amt kostete, ebenso vorsichtig.

Mit dieser journalistischen Sorgfalt haben die auf weltweite Aufmerksamkeit ausgerichteten Wikileaks-Leute nicht gearbeitet und dadurch alle neuen Erkenntnisse aus den US-Depeschen wohl oder übel entwertet. Nach dieser Panne werden es sich viele, die über Belege für aufklärungswürdige Verhältnisse verfügen, zweimal überlegen, ob sie diese der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen oder gar aus der Hand geben sollen.

Der Schluss aus dieser Affäre muss also wohl sein, dass Aufdeckerarbeit nur dann etwas wert ist, wenn sie auch von Profis gemacht wird. Wenn Dilettanten ihre ideologischen Kämpfe damit ausfechten, nützt das weder der Sache noch den Menschen, die damit in Verbindung stehen. (DER STANDARD, Printausgabe, 2.9.2011)