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Keine Einmischung: Papst Pius XII hat auch Briefe verfolgter Juden ignoriert.

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Es ist das dunkelste Kapitel in der jüngeren Geschichte der Katholischen Kirche: Das Schweigen von Papst Pius XII zum Holocaust. Der deutsche Kirchenhistoriker Hubert Wolf von der Universität Münster leitet ein Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu diesem Thema.

Wolfs These lautet: Die Gründe für die Haltung von Pius XII seien in seiner Zeit als Apostolischer Nuntius in Deutschland, in seinen "deutschen Erfahrungen" zu suchen. Eugenio Pacelli - 1939 zum Papst gewählt - war von 1917 bis 1929 in dieser Funktion.

Anhand der rund 6500 Nuntiaturberichte, die Pacelli in zwölf Jahren nach Rom sandte, will Wolf "zwei Traumata" beim späteren Papst erkennen, wie er bei einem Vortrag im Rahmen der Salzburger Vorlesungen an der Uni Salzburg erläuterte. Pacellis Berichte sind seit der Öffnung der Akten aus dem Pontifikat von Pius XI (1922-1939) im Vatikanischen Geheimarchiv (Archivio Secreto Vaticano) öffentlich zugänglich.

Das erste Trauma sei die päpstliche Friedensinitiative von 1917, glaubt Wolf. Pacelli musste im Auftrag Papst Benedikt XV von München aus den aus sieben Punkten bestehenden Friedensvorschlag der Welt unterbreiten. Die Aktion "war ein Schlag ins Wasser", sagt Wolf. Die Folgerung für Pacelli: Der Vatikan werde sich in einer politischen Frage nie mehr positionieren. Der Papst sei schließlich der Papst aller Katholiken auf allen kriegsführenden Seiten und bleibe unparteilich.

Das zweite Trauma nennt Wolf "Kulturkampftrauma". Als Pacelli nach Deutschland gekommen sei, habe er eine Gruppe von Klerikern kennengelernt, die ihre Jugend im Kulturkampf verbracht hätten. "Kulturkampf ist die Zeit von 1870 bis 1890, wo es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen dem neu gegründeten Bismarckschen Reich und der Kirche kam", erläutert Wolf. Dabei hätten sich die Katholiken den Vorwurf gefallen lassen müssen, keine echten Deutschen zu sein, sondern eine "Internationale mit dem Chef in Rom" zu bilden.

Die Folge des "Kulturkampfes": Der Streit mit dem Staat habe dazu geführt, dass tausende von Pfarreien nicht besetzt waren; tausende Katholiken seien ohne die heiligen Sakramente gestorben. Damit wäre das oberste Gesetz der Kirche - das der Seelsorge - gebrochen worden. Folgerung von Pacelli laut Wolf: "Wir dürfen nie mehr mit dem Staat streiten." Nie mehr dürften deutsche Katholiken "ohne letzte Ölung, ohne Wegzehrung und ohne Lossprechung sterben."

Mit der Hypothese der zwei Traumata sei zu verstehen, warum Pius XII zum Holocaust "nur uneigentlich redet oder schweigt", meint Wolf. Einschränkung des Kirchenhistorikers: Eine Bestätigung dafür sei letztlich erst mit der Öffnung der Akten des Pontifikats von Pius XII möglich. Die Freigabe für die Forschung sei frühestens in vier Jahren zu erwarten. (DER STANDARD, Printausgabe, 12.10.2011)