Soziologe Roland Verwiebe: "Der Mut zum Risiko hält sich hierzulande doch sehr in Grenzen."

Foto: Roland Verwiebe

Susanne Jakszus vollzog mit 35 Jahren endgültig ihren "U-Turn" zur Künstlerin.

Foto: Ulrike Felder

Helga Petermann (56) wusste schon als Kleinkind, dass sie einmal Lehrerin werden möchte. Ihr Schulabschluss - ein musisch-pädagogische Gymnasium in Wien - deutete ebenfalls in diese Richtung. Immerhin landeten fast alle ihre Schulkolleginnen nach der Matura an der Pädagogischen Akademie (PÄDAK). Doch bei ihr kam alles ganz anders.

Als Magistratsbeamtin in der Buchhaltungs- und Verwaltungsstelle finanzierte sie sich ihre erste Mietwohnung. Neben ihrer Arbeit im öffentlichen Dienst absolvierte sie in den darauf folgenden sechs Jahren die Ausbildung zur Standesbeamtin. "So war ich mit 25 eine der ersten Frauen in diesem Metier", berichtet Petermann. Bis zur Geburt ihres Sohnes sollte sich daran - bis auf einen Karrieresprung in die Aufsichtsbehörde der Standesämter - auch nichts ändern. 

Sinnkrise mit Veränderungspotenzial

Nach einem Karenzjahr ging es wieder zurück zum Magistrat. "Ich nahm eine Halbtagsstelle in der Verwaltung an, da ich wusste, dass ich die Arbeit am Standesamt - mit relativ vielen Abendterminen und Konferenzen - als Mutter eines kleinen Kindes nicht mehr bewältigen kann", berichtet Helga Petermann. Es folgten mehrere Versetzungen, die sie allesamt frustrierten und in einer Sinnkrise mündeten. Als dann ihre Tochter auf die Welt kam, hatte sie bereits den Entschluss gefasst, nicht mehr in den öffentlichen Dienst zurück zu kehren. Durch die Betreuung der beiden Kinder kam sie schließlich in Kontakt mit Menschen, die eine integrative Kindergruppe aufbauen wollten. "Die haben mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte mitzuarbeiten und spürte relativ rasch, dass ich zu diesen besonderen Kids einen guten Zugang habe. Ich fühlte aber gleichzeitig auch, ich brauche für diese Arbeit noch eine adäquate Ausbildung", so Petermann.

Nach zwei Jahren Anstellung in der Kindergruppe stand ihr Entschluss fest mit 36 Jahren noch das "Sonderschullehramt" an der PÄDAK zu inskribieren. Nach sechs Semestern beendete sie ihre Ausbildung zur Sonderschulpädagogin. So begann Helga Petermann erst mit 39 Jahren - einem Alter, in dem üblicherweise der Höhepunkt einer Karriere beschritten wird - ihren "beruflichen Heimathafen" anzusteuern.

Nicht neu, aber für Österreicher wenig massentauglich

Für die Wissenschaft stellt der "U-Turn" noch kein weit verbreitetes Alternativmodell dar. "Ein Blick auf Arbeitsmarktstatistiken zeigt, dass österreichische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehr häufig in den Berufsfeldern bleiben, für die sie ursprünglich ausgebildet wurden", erklärt Roland Verwiebe, Professor am Institut für Soziologie der Uni Wien. Ein sich dynamisierender Arbeitsmarkt hält seiner Ansicht nach aber nicht nur Nachteile, sondern auch Chancen bereit, die es vorher noch nicht gab. Allerdings erfordert so ein deutlicher Bruch in der Berufsbiografie eine hohe Risikobereitschaft. "Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Menschen davon träumen und das im Kopf tragen, aber wesentlich weniger Leute trauen sich dann auch wirklich. Mein persönlicher Eindruck ist, dass sich der Mut zum Risiko hierzulande doch sehr in Grenzen hält", bringt es der Sozialwissenschafter auf den Punkt. Dabei ist der "U-Turn" an sich nichts Neues, "mussten Migranten und Migrantinnen bis vor wenigen Jahren - auch bei guter Qualifikation - häufig eine erzwungene berufliche Kehrtwende machen", analysiert Soziologe Verwiebe. Ein Umstand der seiner Meinung nach in Österreich auch heute noch für "klassische" Einwanderer, außerhalb des EU-Raums, zutrifft. 

Frauen sind flexibler

Was die Verbreitung freiwilliger "Berufszäsuren" unter der österreichischen Bevölkerung betrifft, gibt es noch keine Daten. Dass es sich dabei aber um ein primär weibliches Phänomen handeln dürfte, zeigt ein Beispiel aus der österreichischen Exilgeschichte der 1930er- und 1940er-Jahre. Die Historikerin Helga Embach von der Universität Salzburg kam in ihrem Forschungsprojekt über die Auswanderung von Österreicherinnen und Deutschen nach Shanghai zu dem Ergebnis, dass Frauen besonders flexible Strategien entwickelten, um sich an die neue Lebens- und Berufssituation anzupassen. Während die emigrierten Männer in weitgehender Apathie erstarrten und kaum oder nichts zum Familieneinkommen beitrugen, übernahmen die Frauen im Exil in erster Linie die "Rolle der Ernährerin". Das legt den Schluss nahe, dass Männer ein besonders hohes Identifikationspotenzial aus dem angestammten Berufsfeld schöpfen und dieses nur selten aufgeben beziehungsweise verlassen.

Von der Wirtschaft zur bildenden Kunst

Auch Susanne Jakszus (42) hat in ihrem Ausbildungs- und Arbeitsleben schon viel Flexibilität gezeigt. Nach einem abgebrochenem Jus- und Dolmetsch-Studium, belegte sie an der WU-Wien das Fach "Handelswissenschaften", das sie im Eiltempo - innerhalb von elf Semestern - abschloss. "Rückblickend betrachtet hätte ich mir alles andere als das aussuchen sollen. Damals dachte ich einfach, Wirtschaft kann nicht schaden und damit kann man später eh alles machen", begründet Susanne Jakszus ihre Wahl. Die Entscheidung auch noch das Doktorat zu absolvieren, blieb ihr durch eine erfolgreiche Bewerbung beim Magna-Konzern erspart, wo sie in der Personalentwicklung anheuerte.

In dieser Zeit begann die heute 42-Jährige eine viersemestrige berufsbegleitende Ausbildung im Bereich "Human Ressource Management", über die sie ihr Interesse für gruppen-dynamische Prozesse entdeckte. Nach vier Jahren bei Magna kam die Sinnkrise: "Ich dachte mir‚ das kann es nicht gewesen sein im Leben." Nach dem Besuch eines Ausbildungsmoduls beim Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik (ÖAGG), bei dem sie mittlerweile ebenfalls in Ausbildung war, setzte sie den Entschluss zu kündigen in die Tat um. Danach folgte ein halbjähriges Intermezzo beim Institut für Bildung und Wirtschaft (IBW).

Während einer zwölfmonatigen beruflichen Pause inskribierte sich die damals 32-Jährige für das Doktorat und begann eine Ausbildung zur künstlerischen Fotografin bei fotoK. Leben konnte sie in dieser Zeit von ihren Ersparnissen. Auf einer Reise durch Kuba im Jahr 2001 kehrte Susanne Jakszus den Wirtschaftswissenschaften endgültig den Rücken und entschied sich für die Fotografie. Zwar verbrachte sie noch weitere zweieinhalb Jahre am Institut für Non-Profit-Organisationen (NPO-Institut) der WU Wien, die ihr in guter Erinnerung geblieben sind, aber dieser Job diente primär der Finanzierung der neu gewonnen Leidenschaft - der Kunst. Heute arbeitet sie für fotoK und als freischaffende Fotografin. Bereut hat die Künstlerin ihren Entschluss nicht, denn "ich könnte ja wieder in die Wirtschaft zurück gehen, wenn ich wollte. Was mich interessiert sind Menschen. Und mit ihnen arbeiten kann ich über die Fotografie auch." (Günther Brandstetter, derStandard.at, 2.11.2011)