L'Hôtel Frison, erbaut von Horta 1893/94.

Voller Stilbrüche, Gegensätzlichkeiten, Glanzseiten und Schmuddelecken: Brüssel ist wie ein über die Jahrhunderte entstandenes Gemeinschaftsgemälde von Pieter Brueghel, René Magritte und Marcel Broodthears. Hineingesprenkelt in dieses schillernde, bunte und ziemlich zerschrammte Stadtbild: Jugendstil-Villen und -Paläste, mit kühnen Fassaden aus Glas und Stahl, mit kunstvollem Rankenwerk aus Eisen und, wie der berühmte Brüsseler Jugendstilarchitekt Victor Horta postulierte, so langsam zu erschließen wie die Handlung eines Romans.

Hortas 150. Geburtstag zelebriert Europas Hauptstadt mit einem Jubiläumsjahr. So etwa wird im Musée Belvue bis Anfang Dezember dokumentiert, dass und wie der Schustersohn aus Gent, dem 1932 wegen seiner Verdienste um die Architektur von König Albert I. der Titel Baron verliehen wurde, bürgerliche Wohn- und Einkaufskultur revolutioniert hat.

In der Tat sind es gebaute Erzählungen über Form und Material, über Ornament und Raum, über Experiment und Licht, über Funktionalität und Ästhetik, über Farbe und Technologie, über Glas und Stahl, die es zu erschließen gilt - etwa im Horta-Museum mit seinen lichtdurchfluteten Räumen und hohen Fenstern, das in seinem Ensemble aus Privathaus und Atelier in der Rue Américaine untergebracht ist.

Oder im Palais des Beaux Arts: 8000 Quadratmeter für alle Künste errichtete Horta 1919 im Auftrag des belgischen Staates. Erst jüngst wurde der Palast der Künste renoviert, nun entspricht die Raumaufteilung wieder exakt Hortas Plänen. Oder auch Hortas gleichermaßen kühner wie im wahrsten Sinn des Wortes bahnbrechender Entwurf für den Brüsseler Zentralbahnhof, der erst Jahre nach seinem Tod fertiggestellt wurde.

Vier von Hortas Baukunstwerken wurden zum Weltkulturerbe erklärt. Doch eines seiner wichtigsten Gebäude, für dessen Fassade der Jugendstilmeister erstmals ausschließlich Glas und Stahl verwendete, existiert nicht mehr. Die Sozialistische Partei wusste ihre Zentrale, die von Horta geplante Maison du Peuple, nicht zu schätzen und ließ sie 1965 abreißen. Vielleicht auch, weil der Pionier des Jugendstils Freimaurer war und als bevorzugter Architekt der Reichen und Schönen galt. Allein vier Horta-Villen säumen Brüssels Prachtstraße, die Avenue Luise, eine Melange aus Champs-Élysées und 5th Avenue.

Das Haus Solvay steht hier, erbaut für den belgischen Fabrikanten, Chemiker und Philanthropen Armand Solvay. Horta stattete dieses bis ins kleinste Detail durchdachte Gesamtkunstwerk mit einer Art Klimaanlage aus. Oder jenes für Emile Tassell, das Horta baute, als er 32 Jahre alt war. Freimaurer Tassell wünschte sich für sein nobles Stadthaus aus Stein, Stahl und Glas den Grundriss eines ägyptischen Heiligtums.

In der Maison Autrique, Hortas erstem Stadtpalais, das er 1893 für seinen Freund und Freimaurer-Bruder Eugène Autrique errichtete, ist bis zum Jahresende die Baukunst des Jugendstil-Genies ausgestellt. Eine aufschlussreiche Installation vom Keller bis zum Dach, wenngleich etliches leider fehlt: 1945, zwei Jahre vor seinem Tod im September 1947, hatte Baron Victor Horta beschlossen, große Teile seines Archivs zu vernichten. (Andrea Schurian aus Brüssel, DER STANDARD/Printausgabe 2. November 2011)