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Auf der Suche nach Rückzugsräumen im Trubel des Oktoberfests: Birgit Minichmayr und Nicholas Ofczarek als Karoline und Kasimir in München.

Foto: APA/Horn

Ödön von Horváths Oktoberfestspiel Kasimir und Karoline erzählt von den letzten Wies'n-Tagen vor der Machtergreifung durch die Nazis. Der Chauffeur Kasimir (Nicholas Ofczarek) wurde soeben "freigesetzt", was ihn eher daran hindert, das bayerische Bier und die derben Volksbelustigungen in vollen Zügen zu genießen. Seine Braut Karoline (Birgit Minichmayr) ist da schon weiter: Mit honigblonden Korkenzieherlocken stapft sie hoch erhobenen Kopfes über die tiefe Bühne des Münchner Residenztheaters.

Der Zeppelin hängt in roten Zelttuchbahnen aus dem Schnürboden herunter (Bühne: Hartmut Meyer). Regisseur Frank Castorf hat den Kleinbürgern den Trödel vor der Nase weggeräumt. Übrig geblieben sind vom Volksstück: erbarmungswürdig verdreckte Klosettanlagen. Ein paar szenische Skizzen, die der Berliner aus dem "genetischen Material" zu Kasimir herausgefischt hat. Ein buchstäblich umwerfendes Ensemble, das die "Stille"-Momente einer schmutzig-schönen Wies'n-Nacht mit Explosionsgeräuschen ausfüllt.

Weg mit der Einfalt

Praktisch alle Sätze, die Horváth geschrieben hat, kommen auch vor in Castorfs szenischem Essay. Nur schenkt Deutschlands dienstältester Provokateur der schlichten Einfalt der Figuren keinen rechten Glauben mehr.

Sein Oktoberfest - immerhin schrieb man zum Zeitpunkt der Premiere den 30. Oktober - markiert am ehesten einen kollektiven Empfindungsraum. Das Milieu gehässiger Modernisierungsverlierer schwimmt im Bier, das man aus Tonhumpen schöpft. Karolines Eltern reagieren auf die Partnerwahl ihrer Tochter, natürlich aus rein wirtschaftlichen Erwägungen heraus, verschnupft.

Nachbarin Rosa (Bibiana Beglau) macht am nämlichen Biertisch ihren SA-Gatten (Shenja Lacher) zur Schnecke. Sie begießt sein Gesäß mit dem nahrhaften Hopfengetränk und versohlt ihm hysterisch den Po. Die Mama muss als Klofrau schuften, der Herr Papa pullert ohne Anzeichen von Ermüdung dem Herrn Schwiegersohn (Ofczarek) ans Bein.

Kasimir aber ist das Kraftpaket dieser höhnischen, dabei jederzeit groß und klar gedachten Inszenierung. Ofczarek blökt und meckert sich in einer roten Wollstrampelhose durch das Chaos der Herbstnacht. In ihr fallen die Klassenschranken. Die Schauspieler kapern die Figuren, weiden sie aus und werfen sie weg wie Teddybären mit aufgeschlitzten Bäuchen. Castorf hat mit Horváth ganz gewiss nicht seinen Frieden gemacht: Spricht sich der Kasimir mit seinem Freund Merkl Franz aus, verfällt er unversehens ins Dreigroschenopern-Singen. "Hör' auf damit!", beklagt sich dann der Merkl Franz. Den "Kroaten" (gemeint ist Horváth) habe 1938 in Paris ein Ast erschlagen, da sei der Emigrant Brecht schon in Finnland gesessen und habe dort schön "gefickt".

Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass der Klassenkämpfer Brecht dem alten Anarchisten Castorf ungleich mehr am Herzen liegt als der Kleine-Leute-Versteher Horváth. Wo sich Einverständnis breitmacht, bemüht sich der Berliner Eisenhändlersohn um möglichst dissonant klingende Störgeräusche. Dann reißt er den Chargen die Charaktermasken herunter und vergeht sich an ihrem sorgsam gehüteten Innenleben. Ehe es aber an der Zeit ist, dünnhäutige Horváth-Anhänger um Nachsicht zu bitten, muss man eine Lanze brechen: Das Wunder dieser heiß umstrittenen Aufführung sind die Schauspieler.

Minichmayrs raustimmiges Selbstbewusstsein zieht Karolines Duldsamkeit aus dem Schmutz der Einfalt heraus. Sie erklärt ihrem verdutzten Kasimir, wie sie mit "studierten Leuten" um die Häuser zieht: "Gönn' mir doch auch a bissel was!" Sie kann auf Knopfdruck Jüngers Essay Der Arbeiter herbeten, sich den androgynen Kavalier Schürzinger (Beglau) vom Leib halten und auf der Klosettschüssel bella figura machen. Nicht zu vergessen: Auf einem echten Fjordpony (Kaspar) reitet sie obendrein.

Suche nach Widerstand

Ofczarek ist der verrückte Kampfhund dieser Inszenierung: Bei Bedarf gibt er den Wiener Waschlappen, um im nächsten Augenblick als Kraftsportler wie Phönix aus der Jauche zu steigen. Castorf-Schauspieler kämpfen gegen Widerstände.

Wo solche nicht auftauchen, bauen sie auf die Widersetzlichkeit der Schwerkraft. Oder sie fallen aufs Kreuz ("Das Kreuz, das hakelige!") oder brüllen sich Mut zu: "Jetzt sind wir auf der Höhe des politischen Kabaretts!" Oder sie bitten das Publikum um Teilnahme: "Sie können ruhig mitreden. Das ist nicht Fernsehen!" Oder sie halten läppische Standarten in die Höhe, weil die Oktober-Wies'n eben doch ein Kampfplatz ist, eine Arena, in der das Geschwätz der Ideologien erschallt, ehe es in seine Einzelteile zerfällt.

Castorfs Thema ist, nicht bloß der Kloschüsseln wegen, die "große Not". Kasimir, der zum Schluss wie Diogenes in der Tonne haust, greift sich die Erna. Nichts ist es mit der trauten Zweisamkeit: Karoline verschwindet im Gebüsch. Es ist zum Heulen. Einigen Münchnern war zum Buhen. Große Kunst weckt manchmal Widerspruch. (Ronald Pohl aus München, DER STANDARD/Printausgabe 2. November 2011)