Regisseur David Lynch schwingt ganz praktisch den Pinsel, um Misha Gromovs theoretischen Gedanken einen künstlerischen Rahmen zu geben.

Foto: Olivier Ouadah

Schöne Strukturen in der Kuppel von David Lynchs Installation zur "Bibliothek der Mysterien" von Misha Gromov (unten).

Foto: Fondation Cartier
Foto: Fondation Cartier

Um zu beweisen: Mathematik ist eine eigene, aber schöne Welt, und die Reise dorthin lohnt sich.

"In Mathematik war ich noch nie besonders. In der Schule nicht. Jetzt auch nicht." Der amerikanische Regisseur David Lynch lässt die Katze gleich aus dem Sack. Auf den Vorschlag von Hervé Chandès, Direktor der Fondation Cartier pour l'art contemporain, kam gemeinsam mit Mathematikern eine Ausstellung zu erarbeiten, die die Schönheit der Mathematik einem Nichtfachpublikum näherbringt, reagierte Lynch zunächst mit einem herzhaften "Warum ausgerechnet ich?". Das legte sich. Denn arbeiten Mathematik und Künstler auch mit unterschiedlichem Material, ließ sich für die Ausstellung "Mathematics. A Beautiful Elsewhere" doch ein gemeinsamer Anspruch formulieren.

Die Kollaborateure waren zum einen die Mathematiker: Michael Atiyah, Professor an der University of Edinburgh, Jean-Pierre Bourguignon, Vorstand des IHÉS (Institut des Hautes Études Scientifiques), Alain Connes, Professor am Collége de France für Analysis and Geometry, Nicole El Karoui, führende Finanzmathematikerin, Misha Gromov, Professor am IHES, Cédric Villani, Direktor des Institut Henri Poincaré, Don Zagier, Direktor des Bonner Max-Planck-Institut für Mathematik. Zum anderen die Künstler Jean-Michel Alberola, Maler, Raymond Depardon und Claudine Nougaret, Filmemacher, Takeshi Kitano, Filmemacher, Beatriz Milhazes, Malerin, Patti Smith, Musikerin, Hiroshi Sugimoto, Fotokünstler und eben David Lynch.

Was Mathematik mit Schönheit zu tun hat, erschließt sich dem Mathe-Skeptiker noch weniger als eine Fourier-Reihe. Das gibt sich allerdings, sobald man die Mathematiker über ihre Forschung reden hört.

Cédric Villani etwa, 37-jähriger Leiter des Institut Poincaré, Träger der Fields-Medaille 2010 sowie pompöser Plastrons und Broschen, beschreibt gar Mathematik in ihrer Gesamtheit als mysteriöse Schöne, die sich immer wieder entzieht und deren Geheimnisse es zu erkunden gilt. Nicht nur Schönheit also, sondern Passion. Und ist damit in bester Gesellschaft.

Geist und Begeisterung

Denn im Filmprojekt von Raymond Depardon und Claudine Nougaret, in dem die Mathematiker über ihre Arbeit, über Kreativität und Faszination sprechen, geht es in der Hauptsache um Geist und Begeisterung. Nebenbei vermittelt jener Teil der Ausstellung ein Bild der Denkrichtungen aus der exklusiven Sphäre der weltweit 100.000 forschenden Mathematiker. Nicole El Karoui etwa, in den 1980er-Jahren an der Entwicklung der Finanzmathematik wesentlich beteiligt und bis heute weltweit führend auf diesem Gebiet, formuliert die Bedeutung ihres Fachs für die gelebte Gegenwart und seine Verbindung mit tatsächlichen sozialen und kulturellen Verhältnissen.

Die Schlüsselsätze für das Verhältnis der meisten Nichtmathematiker zu seinem Fach stammen von Jean-Pierre Bourguignon, der sich mit Geometrie, insbesondere mit hochtheoretischen Themen wie Aspekten der Poincaré-Vermutung beschäftigt. Er wünscht jedem Individuum ein Initiationserlebnis hin zur Mathematik und berichtet mit nostalgisch-infektiösem Schmelz von seinem eigenen: dem Gymnasiallehrer.

Die Künstler ließen sich wohl anstecken, aber nicht unbedingt initiieren. Eine Parallele im kreativen Prozess zwischen Kunst und Mathematik findet sich in vielen Kontexten. Denn wie die Mathematik nicht die Wege des Künstlers in neue Bahnen lenkt, bleibt auch die Mathematik jenseits des Projekts von der Kunst unbeeindruckt. Cédric Villani: "Die Begegnung mit Kunst hat mich in meiner mathematischen Forschung nie inspiriert. Das kommt nur aus dem Inneren." Darin will David Lynch sein liebstes Reiseziel, die Quelle des Bewusstseins, wiedererkennen: "Man könnte wohl sagen, dass die transzendentale Meditation, das Eintauchen in die innere Tiefe zur Erweiterung des Bewusstseins, ein ähnlicher Prozess ist." Die Tauchgänge ins Meer des Kreativen zeitigte eine bunte Projektpalette: etwa Roboter, die selbstständig Sprache entwickeln. Ein Screen, der den Besucher zum Ersinnen einer Gleichung animiert, die rechts vom Ist-Zeichen die Zahl 2011 ergibt.

Dem Netzwerkcharakter vom "schönen Anders-Ort" zum Trotz darf das große Denkkonvolut des russischen, 1981 nach Frankreich emigrierten Mathematikers Misha Gromov als Gravitationszentrum des Projekts gelten. Der 68-Jährige hat sich durch seine Beschäftigung mit der riemannschen Geometrie und der geometrischen Gruppentheorie im illustren Stamm der forschenden Mathematiker seinen Platz definiert.

Chaos und Symmetrie

Seine "Vier Mysterien der Welt" (aus: The Unravelers, Mathematical Snapshots 2008) und die damit verbundene "Bibliothek der Mysterien" dürfen als eine Art Welterklärungsmaschine gelten. Das erste Mysterium der Welt sei die Natur der physikalischen Gesetze, die Struktur der physikalischen Masse, insbesondere ihrer Symmetrie. Das zweite Mysterium sei das Leben, das sich aus der Struktur der physikalischen Massen entwickelt und exponentiell viele mögliche Ausformungen hat. Das dritte Mysterium sei die Funktion einer zufällig entstandenen, scheinbar amorphen Masse organischer Substanz namens Gehirn. Das vierte Mysterium, quasi die Ultima Ratio, wäre dann die mathematische Struktur. Wie und wann sie auftaucht, wie die Mathematiker sie formen und wie es dem Hirn gelingt, sie aus dem Chaos der Eindrücke von außen zu erschaffen. Dieses darzustellen unternahm David Lynch in einer multimedialen Installation.

Trotz der neuen Freundschaft: Mathematiker wird aus Lynch keiner. "Ich bin froh, wenn ich weiß, wie lange der Holzstock ist, den ich für meine Arbeit brauche. Das ist mir Mathematik genug." (DER STANDARD, Printausgabe, 02.11.2011)