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Die Wahl des Mittels erfolgt nicht nur nach Krankheit, sondern auch in Bezug auf den Typus des Patienten.

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Die Zahlen sind beeindruckend. Schätzungen zufolge wurden schon 2006 weltweit 40 Milliarden US-Dollar für Naturheilmittel aus der Traditionellen Chinesischen Medizin, kurz TCM, ausgegeben. Der Markt wächst um durchschnittlich 13 Prozent jährlich, allein in chinesischen Spitälern praktizieren weit mehr als 200.000 TCM-Ärzte. Über die Verbreitung von TCM in Europa gibt es nur wenig Datenmaterial. Einer britischen Studie zufolge haben bereits fünf Prozent der Bevölkerung des Vereinigten Königreichs TCM-Präparate genommen.

Die wachsende Popularität der seit Jahrtausenden überlieferten chinesischen Heilkunst in westlichen Ländern lässt sich wissenschaftlich nur schwer erfassen. Ihre Effektivität ist meist nicht eindeutig belegt, so manches mutet gar dubios an und erinnert eher an Magie als an ernsthafte Medizin. Doch das ist nicht alles. Immer häufiger versuchen Wissenschafter, die Wirkung von TCM-Medikamenten mit modernen Methoden nachzuweisen, zum Teil mit faszinierenden Resultaten. So hat ein Extrakt der chinesischen Heilpflanze Trichosanthes kirilowii in Laborversuchen gezeigt, dass es Lungen-Tumorzellen zerstören kann und ihre Metastase-Aktivität hemmt.

"Es gibt etwa 3000 verschiedene natürliche Heilmittel, wovon wir rund 500 häufiger anwenden", erklärt die TCM-Heilpraktikerin Wen Shi Chun vom TCMeridian Institut in Wien. Ungefähr 70 Prozent solcher Präparate sind pflanzlichen Ursprungs, der Rest ist mineralischer oder tierischer Herkunft. Pulverisierte Hundeknochen zum Beispiel sind gut gegen Nierenschwäche und Kreuzschmerzen, sagt Wen.

Individuell ausgerichtet

Die Wahl des Mittels erfolge allerdings nicht nur nach Krankheit, sondern auch in Bezug auf den Typus des Patienten, sein persönliches Verhältnis zwischen Ying und Yang. "Wir haben nicht dieselben Diagnosemethoden wie die Schulmedizin. Wir müssen ganzheitlich denken."

Die stärkere Orientierung am Individuum ist wohl einer der Hauptgründe für die Beliebtheit der TCM in Europa, meint Joëlle Nortier, Medizinerin an der Université Libre de Bruxelles. Die westliche Medizin habe sich sehr stark spezialisiert und technologisiert. Deshalb gebe es "einen Verlust an Menschlichkeit". "Man muss den Patienten aber zuhören, sie wollen Empathie." Und genau das tun TCM-Ärzte, sagt Nortier. Es gebe allerdings noch einen weiteren Aspekt. Im Westen herrsche eine zunehmende Skepsis gegenüber der Pharmaindustrie. Bei vielen hat sich eine Zurück-zur-Natur-Mentalität ausgebreitet, aber das birgt auch Gefahren, betont Nortier, "Natur ist nicht nur gesund."

Nortier kennt dieses Problem nur allzu gut. Seit Jahren erforscht die Nieren-Expertin besonders riskante Heilkräuter der TCM: Gewächse aus der Gattung Aristolochia. Die Pflanzen enthalten Aristolochinsäure, und diese hat eine alles andere als heilende Wirkung. In den Neunzigern erkrankten mehr als 100 meist junge belgische Frauen an einem zunächst rätselhaften Leiden. Innerhalb von wenigen Monaten versagten ihre Nieren. Die Patientinnen hatten vorher im Rahmen von Schlankheitskuren chinesische Kräutermischungen eingenommen. Bei späteren Untersuchungen fand man heraus, dass Aristolochia fangchi (guang fang chi) die Nierenschäden hervorrief.

Die Studienergebnisse erregten in Fachkreisen große Aufmerksamkeit. Einige Wissenschafter zogen Parallelen zu einer anderen seltsamen Krankheit, der Endemischen Nephropathie (EN).

In Nahrungsmitteln

Dabei handelt es sich um ein chronisches Nierenleiden, welches Teile der Landbevölkerung in Serbien, Kroatien und den Nachbarländern befällt. Einem internationalen Forscherteam unter Leitung des US-Pharmazeuten Arthur Grollman gelang schließlich der Nachweis, dass EN durch den Verzehr von kontaminiertem Mehl verursacht wird. Letzteres enthält in den betroffenen Gebieten oft beachtliche Mengen von Samen der Osterluzei, Aristolochia clematitis, einem im Donaubecken häufigen Unkraut in Weizenfeldern.

Sowohl auf dem Balkan als auch bei den Belgierinnen ist Aristolochinsäure der Übeltäter. "Fünf Prozent der Menschen, die Aristolochinsäure aufnehmen, bekommen EN", sagt Grollman. Eine neue Studie in Kidney International hat eine besonders tückische Wirkung der Substanz aufgezeigt. Ihre Abbauprodukte lagern sich an die DNA von Epithelzellen in Nieren und Harnleitern an und können so die Bildung einer eher seltenen Form von Krebs verursachen. Diese Tumore der oberen Harnwege treten irgendwann bei der Hälfte aller EN-Patienten auf. Im chinesischen Kulturraum dürfte das ein enorm unterschätztes Gesundheitsproblem sein, betont Grollman. "Allein in Taiwan hat etwa einer von drei Menschen in den vergangenen fünfzig Jahren Aristolochia eingenommen. Das sind acht Millionen." Insgesamt gebe es weltweit wohl zwischen hundert und dreihundert Millionen Exponierte.

Wen Shi Chun hält den Einsatz von A. fangchi dennoch für vertretbar, schließlich gibt es auch in der Schulmedizin gefährliche Nebenwirkungen. "Guang fang chi kann die Nieren überfordern", meint sie. Deshalb sollte es, je nach Patient, zusammen mit nierenschützenden Mitteln wie Goji-Beeren oder Yams-Wurzel verabreicht werden. "Dann braucht man sich keine Sorgen zu machen. So etwas muss ein TCM-Arzt wissen." In Österreich ist der Verkauf von Aristolochia-Produkten allerdings offiziell verboten. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, Printausgabe, 21.11.2011)