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Wenn ein Elternteil psychisch krank ist, ist Spielen manchmal nur Nebensache für Kinder. Sie übernehmen oft die Rolle der Erwachsenen.

Foto: REUTERS/Phil Noble

Soweit Johanna E. zurückdenken kann, war "etwas anders". Die 24-Jährige hat eine psychisch kranke Mutter, die an Psychosen und Depressionen leidet. Rund 50.000 Kinder und Jugendliche in Österreich wachsen in einer ähnlichen Situation auf. 

"Manchmal hatte meine Mutter klare Momente, manchmal war sie ganz woanders", erzählt die junge Frau. Als Kind habe sie aber nicht so richtig realisiert, was genau los war. Als sie als Elfjährige eines Tages von der Schule kam, merkte sie, dass etwas gar nicht stimmte. Instinktiv versuchte sie ihre Mutter aufzumuntern, ging mit ihr spazieren. Noch am selben Tag versuchte ihre Mutter zuhause Suizid zu begehen. Johanna E. fand ihre Mutter und rief die Rettung. Die Ablenkung hatte nicht geholfen. "Ein kleiner Teil von mir ist an diesem Tag kaputt gegangen", erinnert sich die 24-Jährige.

Leben mit kranken Eltern

Die Lebenswelt dieser Kinder und Jugendlichen kennt Edwin Ladinser, Geschäftsführer des Vereins Hilfe für Angehörige Psychisch Erkrankter (HPE), gut: Sie übernehmen teilweise die Elternfunktion, übernehmen den Haushalt und schauen auf die Geschwister. Manchmal wollen sie auch den Schein nach außen wahren. In der Schule fallen die angepassten Kinder oft nicht auf. Manche sind froh, dass in der Schule Normalität herrscht, denn was sie zuhause erwartet, wissen sie nie. Schuldgefühle sind ständig da: "Sie sind oft besonders brav, weil sie glauben die Mutter oder der Vater sei traurig, weil sie schlimm waren", erklärt der Soziologe. 

Seit 34 Jahren existiert HPE als Zusammenschluss von Vereinen und Selbsthilfegruppen von Angehörigen und Freunden psychisch Erkrankter. Aus Erfahrung weiß Ladinser, dass es meist gesunde Angehörige sind, die sich an die Beratungseinrichtungen wenden - auf der Suche nach Informationen wie sie mit der psychischen Erkrankung umgehen sollen. Denn viele Kranke nehmen gar keine Behandlung in Anspruch, die Diagnose ist oft ungewiss.

Manche Eltern sind so mit ihrer Krankheit beschäftigt, dass sie die Bedürfnisse ihrer Kinder gar nicht wahrnehmen können. Deren Geschichten kennt Ladinser aus vielen persönlichen Gesprächen. Manche hätten ihn sehr mitgenommen, erzählt er. Denn die Eltern blieben dennoch ein Vorbild und wenn ein Elternteil sagt "Kind pass auf, wir werden verfolgt", gehöre das zur täglichen Realität der Kinder. 

Überforderung mit Elternrolle

Genauso wie der kindliche Instinkt den betroffenen Elternteil zu beschützen. "Als meine Mutter vom Klinikaufenthalt zurückkehrte, hatte ich das Gefühl auf sie aufpassen zu müssen", erzählt Johanna E. Mit der Konsequenz, dass sie sie nicht mehr ganz in der Mutterrolle akzeptieren konnte. "Dass meine Mutter mich alleine lassen wollte, hat mich sehr wütend gemacht und auch dass sie in ihrer eigenen Welt lebte, mich manchmal gar nicht wahrgenommen hat", sagt die 24-Jährige. Ein Vertrauensbruch, der eine tiefe Kluft in der Beziehung hinterließ.

Doch es gab auch schöne Momente: Bis zum Suizidversuch ihrer Mutter habe sie sehr wohl Gelegenheit gehabt Kind zu sein - auch weil ihre Oma für sie da war. Auch Freunde nahm sie nach Hause mit. Danach musste sie aber "immer aufmerksam sein". 

Diese Rollenübernahme überfordert die Kinder, weil sie früh Verantwortung übernehmen müssen. "Die Kinder können nie unbeschwert sein", weiß Soziologe Ladinser. "Ich hätte gerne strengere Grenzen, ein Stück Normalität gehabt", sagt Johanna E. 

Angst vor Verlust

Als wäre die Krankheit nicht tragisch genug, gehen Partnerschaften psychisch kranker Menschen häufig in die Brüche, gefolgt von sozialem Abstieg, weiß Ladinser. Die Betroffenen denken nach ob sie gute Eltern sind, haben Angst, dass das Jugendamt ihnen die Kinder wegnimmt. Umgekehrt fürchten sich die Kinder vor Verlust der Familie oder Trennung. Auch Johanna E. lebte eine Zeitlang in einer betreuten Wohngemeinschaft, später - getrennt von ihrer Mutter - beim Vater. 

Die Angst vor der psychischen Erkrankung steckt tief im Bewusstsein der Kinder. "Ältere, die schon besser verstehen, fragen sich ob sie selber auch psychisch krank werden", weiß Ladinser. Es bestehe zwar die Gefahr, dass Verhaltensweisen übernommen werden. "Aber 85 bis 90 Prozent bekommen später nicht dieselbe psychische Erkrankung", weiß der Soziologe. Daher sei es besonders schockierend, wenn Kinder auch heute noch immer wieder gefragt würden: "Spürst du auch schon etwas? Ist das ansteckend?"

Aufarbeitung im jungen Erwachsenenalter

Die tatsächlichen Folgen der schwierigen Kindheit spüren Betroffene meist ein Leben lang: Verlustangst und die Erfahrungen prägen Beziehungen zu Freunden und Partnern. Eine Zeitlang litt Johanna E. unter einer Essstörung, weil Essen das einzige war, das ihr ein Gefühl der Kontrolle gab.

Die 24-Jährige hat ihr Leben nun selbst in der Hand. Mit 19 ging sie nach Wien um zu studieren. Mittlerweile hat sie mehr Bewusstsein für die Krankheit ihrer Mutter entwickelt, kann anders damit umgehen, hat aber auch eine Entschuldigung eingefordert. Um besser zu verstehen, hat sie sogar einmal mit dem damals behandelnden Primar ihrer Mutter telefoniert, sei aber nicht richtig ernst genommen worden. 

Trotz ihrer Selbstständigkeit hat die Studentin aber irgendwann gemerkt, dass sie selbst auch Hilfe braucht. Die bekam sie auf Vermittlung einer Studentenberatungsstelle in Form von Psychotherapie. "Das ist harte Arbeit", erzählt sie, "aber es hilft mir sehr." Im Nachhinein weiß sie: psychologische Betreuung hätte sie "schon viel früher gebraucht". Die ersten Versuche sich beraten zu lassen scheiterten allerdings: "Bei verschiedenen Beratungsstellen, wo ich angerufen habe, prognostizierte man 'Da bekommen Sie Tabletten'." Keine Lösung - schon gar nicht ohne persönlichen Kontakt - meint die 24-Jährige.

Online-Plattform für junge Erwachsene

Für junge Erwachsene gebe es zu wenig Beratung und Selbsthilfegruppen, findet die Studentin, die sich auch Anlaufstellen für rechtliche und finanzielle Beratung wünscht. Sie engagiert sich gerade für den Aufbau einer Online-Plattform des Vereins HPE. Im Frühjahr 2012 soll die Plattform von Betroffenen für Betroffene online gehen und dem Erfahrungs- und Informationsaustausch und der gegenseitigen Unterstützung dienen. Das Wissen etwas zu tun - für sich selbst und vielleicht auch für andere, stärkt das Selbstbewusstsein von Johanna E. : "Ich will nicht länger Opfer sein." Die Studentin weiß, dass viele betroffene junge Menschen wie sie glauben, mit ihren Erlebnissen selber klarkommen zu müssen. "Aber sie sollen wissen, dass sie sich Hilfe verdient haben." (Marietta Türk, derStandard.at, 1.12.2011)