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Erinnern, wiederholen, durcharbeiten: Christa Wolf im Juni 2010 in Berlin

Foto: AP / Berthold Stadler

Wien - "Ich wüsste nicht, wie wir dem Zwang zur Versachlichung, der bis in unsere intimsten Regungen eingeschleust wird, anders entkommen und entgegentreten sollten als durch die Entfaltung (...) unserer Subjektivität, ungeachtet der Überwindung, die das kosten mag. Das Bedürfnis, gekannt zu werden, auch mit seinen problematischen Zügen, mit Irrtümern und Fehlern, liegt aller Literatur zugrunde", schrieb Christa Wolf in Ein Tag im Jahr. 1960-2000.

Dieses 700-seitige Tagebuch der anderen Art, geschrieben immer am 27. September des Jahres, liefert nicht nur einen subjektiven Querschnitt über 30 Jahre DDR und deren Folgen, es erzählt auch von Zweifeln, Zusammenbrüchen, wenigen Glücksmomenten und vom Aufstieg einer Schriftstellerin in die höheren Ränge der deutschen Literatur.

Es gibt nicht viele Autoren, deren Leben und Werk so eng mit der Geschichte des "Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden" verbunden ist wie im Fall Christa Wolfs. Und wahrscheinlich hat sich keine(r) so persönlich und streitbar mit dem Verhältnis des Einzelnen zum Kollektiv und dem Zerriebenwerden des Individuums im politischen Räderwerk auseinandergesetzt wie sie.

Der Autor, schrieb die 1929 in Landsberg an der Warthe (im heutigen Polen) geborene Christa Wolf in ihrem Essayband Die Dimension des Autors, habe "sich zu stellen. Er darf sich nicht hinter seiner Fiktion vor dem Leser verbergen (...)."

Als das erwähnte Tagebuch Ein Tag im Jahr 2003 erschien, glaubten daher viele zu wissen, wer Christa Wolf sei. Nämlich eine opportunistische Heuchlerin und "Staatskünstlerin." Nicht lange vorher galt Wolf durch Romane wie Der geteilte Himmel, in dem sie kurz nach dem Mauerbau anhand einer Liebesgeschichte - er geht in den Westen, sie, eine Praktikantin in einer Waggonfabrik, bleibt in der DDR - elegant den "Bitterfelder Wege" (Schriftsteller in die Betriebe!) konterkarierte, noch als Repräsentantin eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz".

Mit dem Fall der Mauer und vor allem durch ihre Erzählung Was bleibt (1990) änderte sich in der Rezeption Christa Wolfs fast alles. Die schmale, im kürzestmöglichen Abstand zum Mauerfall aus der Schublade gezogene Erzählung, die von der eher harmlosen Überwachung der Schriftstellerin durch die Stasi handelt, führte zu einem erbittert geführten (Feuilleton-)Streit und wurde zum Lehrstück über das Verhältnis von Literatur und Politik.

Als im Jänner 1993 schließlich bekannt wurde, dass Christa Wolf von 1959 bis 1962 von der Staatssicherheit als "Gesellschaftliche Informantin Margarete" geführt wurde, war die Demontage Wolfs als vermeintliches Mahnmal für eine sozialistische Utopie perfekt.

Fortlaufende Ernüchterung

In seiner Biografie betrachtet Jörg Magenau Christa Wolfs Leben als "eine Chronik fortgesetzter Verabschiedung", als Emanzipation von Glaubenssätzen und Idealen, also als fortlaufende Ernüchterung. Eine Ernüchterung, die sich auch in ihrem Werk abbildet. Zunächst - in Büchern wie Der geteilte Himmel oder Nachdenken über Christa T. - noch an einer sozialistischen Utopie festhaltend, fand die erste Desillusionierung der Autorin, die Germanistik studierte und bis Mitte der 1970er-Jahre dem Vorstand des DDR Schriftstellerverbandes angehörte, 1965 statt, als sie als Kandidatin für das Zentralkomitee der SED kandidierte und sich in einer Rede gegen die Unterwerfung der Kultur durch die Politik verwehrte.

Fortan galt sie als "feindlich-negatives Element" und wurde von der Stasi überwacht (ihre "Opferakte" umfasst 41 Bände). Sie blieb aber im Land und glaubte weiter an die Möglichkeit, den Staat durch eine beharrliche Auseinandersetzung mit den Exponenten der Macht verbessern zu können.

Ihre weiteren, im Grundton depressiveren Werke wie etwa Kein Ort. Nirgends oder die Erzählung Störfall (die sich mit dem Atomunfall in Tschernobyl auseinandersetzt) sowie die Feminismus und Friedensbewegung thematisierende Erzählung Kassandra führen jedoch, auch beeinflusst durch die Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976, mehr ins Innere - und weg von einer expliziten Auseinandersetzung mit der DDR.

In ihrem letzten großen autobiografischen Roman Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010) setzt sich Christa Wolf dann noch einmal mit ihrem Leben, der "Droge Geld" und der Wunde DDR auseinander. "Erinnern, wiederholen, durcharbeiten", heißt die Trias der Freud'schen Psychoanalyse, und: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man allmählich zu schweigen aufhören", schreibt Wolf, eine Wittgenstein-Formulierung erweiternd, in ihrem Buch Kindheitsmuster.

Christa Wolf starb am Donnerstag, wie der Suhrkamp Verlag mitteilte, nach langer Krankheit 82-jährig in Berlin. Ihr Mann, Gerhard Wolf, mit dem sie seit 1951 verheiratet war und zwei Kinder hat, sei bei ihr gewesen.  (Stefan Gmünder / DER STANDARD, Printausgabe, 2.12.2011)