Ein Röntgenbild nach dem nächsten, ein Befund folgt dem anderen: Für Gabriel Halat und seine Kolleginnen und Kollegen in der Unfallambulanz des AKH das jährliche Ritual zum Jahreswechsel. 

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Wien - Die Frau schreit, tritt um sich und beißt. Nur mit Mühe kann sie beruhigt und auf die Bahre gelegt werden. Die Mischung aus Alkohol und Benzodiazepinen ist schuld daran, dass die Verletzte so aggressiv ist. Für das Ärzte- und Schwesternteam in der Unfallambulanz des Wiener AKH nichts Ungewöhnliches - zumindest nicht in der Silvesternacht.

Je später der Abend, desto blauer die Gäste stimmt auch im Spital - was den 24 Stunden dauernden Dienst für die insgesamt neun Ärzte nicht leichter macht. Wenn die Patientinnen und Patienten so betrunken sind, dass sie auf Ansprache nicht mehr reagieren, ist es für die Mediziner nicht ganz einfach festzustellen, was eigentlich das Problem ist.

Szabolcs-Levente Paal weiß, dass Silvester immer einem bestimmten Ablauf folgt. "Dinner for one" im Krankenhaus, quasi. "Es beginnt so um 00.15 bis 00.30 Uhr. Zuerst kommen die Verletzungen mit Knallern, dann Stürze und Schnittverletzungen und dann Opfer von Prügeleien", sagt der Arzt, während er von einem in den nächsten Raum hastet, um Neuankömmlinge zu begutachten.

Seine Kolleginnen und Kollegen haben die paar ruhigen Minuten vor dem großen Ansturm noch genutzt, um sich das Feuerwerk über der Stadt anzusehen, ehe sie sich aufgeteilt haben - auf die Station im 19. Stock, den OP, den Schockraum und eben die Ambulanz.

Ein Fall für Raum acht

Ohne Unterlass bringt die Rettung Verletzte, humpeln Unfallopfer herein. Wie der junge Mann, der einen "Piraten" zu spät losgelassen hat. Seine rechte Hand ist geschwollen, Paal schickt ihn zum Röntgen - und entdeckt dann auf seinem Bildschirm, dass der Daumen gebrochen ist. Ein Fall für Raum acht, wo der Gips angelegt wird.

Plötzlich schrillt ein altmodisches Telefon. "Wenn sie diese Hitchcock-Klingel hören, ist das ein Alarmfall", erklärt eine Krankenschwester. "Verbrennungen zweiten und dritten Grades, Thorax und Gesicht, 18 Prozent verbrannt", gibt Paal an seinen Vorgesetzten Jochen Erhart weiter. Der organisiert Kollegen aus mehreren Abteilungen, die im "Schockraum" dann auf den Krankenwagen warten.

Der Mann, der zehn Minuten später auf den Untersuchungstisch gehievt wird, kann nicht sagen, was ihm passiert ist, leidet an totalem Gedächtnisverlust. Doch es ist unschwer zu erkennen: Er wurde Opfer einer Explosion.

Oberkörper und Gesicht sind durch die Verbrennungen teilweise fast schwarz, seine Stimme heiser, da die Flammen bis in seinen Rachen gelangt sind. Während er ausgezogen wird, schreit er vor Schmerzen auf, als Erhart seinen rechten Arm untersucht. Wie sich im Computertomografen, der im Schockraum steht, zeigt, ist der Knochen schwer gebrochen.

Patientenstrom

Erhart macht sich fertig, um den mehrfach gebrochenen Arm zu operieren. Es ist seine sechste in diesem Dienst. Von 10 bis 20 Uhr stand er bereits im OP, nun wird er wieder über eine Stunde lang den Bruch behandeln.

In der Ambulanz reißt der Patientenstrom nicht ab. In den ersten vier Stunden des neuen Jahres sind es 40 Menschen, die Hilfe brauchen, um 5. 15 Uhr hat die Schwester, die unermüdlich die Befunde von Paal in den Computer eingibt, schon 50 auf ihrer Liste. Alle sechs Minuten wird also jemand untersucht. Wie man da noch Personal einsparen soll, ist den Medizinern schleierhaft.

Irgendwann ist Paal trotz seiner Dose Red Bull so erschöpft, dass ihn sein Kollege Gabriel Halat ablöst. Doch der ist bereits ebenso schwer gezeichnet. Je länger die Nacht dauert, desto schwerfälliger spricht er, muss sich zusammenreißen, um konzentriert zu bleiben. Die Müdigkeit äußert sich, als er eine Patientin "Frau Harnstick" nennt, da er gerade eine Urinanalyse mittels Harnstreifen in Auftrag gegeben hat.

Sorge um Freundschaftsband

Trotz Erschöpfung bleibt das Team professionell, der Umgangston ruhig. Die Schwestern bemühen sich, Patientenwünsche zu erfüllen - wie den eines jungen Mannes, der auf ein Sektglas gestürzt ist und tiefe, blutende Schnittwunden an der rechten Hand hat. Er bettelt, dass man sein Freundschaftsband, handgemacht von seiner Freundin, nicht abschneidet. Also wird eine Nadel geholt und der Doppelknoten zu seiner Begeisterung aufgenestelt.

Doch es gibt in dieser Nacht auch glückliche Patienten. Ein 17-Jähriger bekam eine Flasche auf die Nase und ist völlig verzagt davon überzeugt, dass er sich im Krankenwagen einen Knochen aus dieser gezogen hat. Ein Blick auf den von den Sanitätern geborgenen Fremdkörper verrät Paal, dass die Lage nicht ganz so schlimm ist. "Das ist kein Knochen, sondern das Stück eines Zweiges." Der Teenager scheint nicht verstanden zu haben. "Wächst der wieder nach?", fragt er stotternd. "Bei ihnen nicht, aber auf dem Baum", beruhigt ihn der Arzt. Dann wendet er sich dem nächsten Sanitäter zu, der einen neuen Fall ankündigt. (Michael Möseneder, DER STANDARD, Printausgabe, 2.1.2012)