Anastassios Frangulidis: "Der Fiskalpakt kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt: Die meisten europäischen Länder leiden unter einer sehr schwachen Konjunktur und müssen sparen. Das erzwingt kein Stabilitätspakt, sondern das fordern die Märkte."

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Trotz Schuldenschnitts zickt die griechische Bevölkerung herum.

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Griechenland bleibt ein schwieriger Patient. Selbst wenn sich die Schulden über Nacht in Luft auflösen würden, wäre das Land nicht gerettet. Warum der Fiskalpakt nicht greift und wo die Griechen die Ärmel hochkrempeln müssen, erklärt der Chefökonom der Zürcher Kantonalbank, Anastassios Frangulidis, im Interview mit derStandard.at.

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derStandard.at: Nach zähem Ringen haben sich 25 EU-Staats- und -Regierungschefs auf den Fiskalpakt geeinigt. Ist es die "Meisterleistung", von der Angela Merkel spricht?

Frangulidis: Der Fiskalpakt ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Er zeigt den Willen der Länder, die Integration in der EU zu stärken und die geldpolitische Disziplin zu erhöhen. An sich haben die EU-Politiker aber nur den Maastricht-Vertrag wieder aufgewärmt. Maastricht wurde im Sinne der fiskalischen Disziplin de facto ja nie angewendet. Bekanntlich haben mehrere Länder den Stabilitätspakt in den letzten zehn Jahren wiederholt verletzt.

derStandard.at: Was unterscheidet die beiden Abkommen?

Frangulidis: Wurde früher gegen ein Land ein Defizitverfahren eingeleitet, musste dieses im Europäischen Rat mit einer Zweidrittelmehrheit abgesegnet werden. Heute ist das Gegenteil der Fall: Das Defizitverfahren muss eingeleitet werden, außer eine qualifizierte Mehrheit ist dagegen. Das heißt, der Druck auf die fiskalische Stabilität und der Druck auf die Länder, den fiskalischen Regeln zu folgen, steigen dadurch erheblich.

derStandard.at: Ist der Druck vieler Euroländer nicht schon hoch genug?

Frangulidis: Allerdings. Der Fiskalpakt kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt: Die meisten europäischen Länder leiden unter einer sehr schwachen Konjunktur und müssen sparen. Das erzwingt kein Stabilitätspakt, sondern das fordern die Märkte. Die Konjunkturschwäche wird noch verschärft und die Länder laufen Gefahr, in eine Rezession zu rutschen. Wenn alle 17 Länder der Eurozone oder die 27 Länder der EU nur noch sparen, wird Europa im globalen Zusammenhang eine schwache Region mit schwachem Wachstum werden - mit Auswirkungen auf die weltweite Konjunktur.

derStandard.at: Der französische Präsidentschaftskandidat François Hollande hat angekündigt, im Falle seiner Wahl das Sparpaket sofort zu stoppen. Die bessere Variante?

Frangulidis: Das Sparpaket ohne andere Gegenmaßnahmen zu stoppen und ohne die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, wäre ein Desaster. Frankreich würde das Vertrauen der internationalen Kapitalmärkte verlieren, was wiederum zu höheren Finanzierungskosten für Frankreich führen würde.

derStandard.at: Gibt es überhaupt eine Lösung für das Schuldenproblem?

Frangulidis: Die Schuldenstaaten müssen das Vertrauen der Kapitalmärkte wieder zurückgewinnen. Doch dazu ist mehr als nur Sparen erforderlich: Strukturreformen, um die künftige Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, sind überfällig. Lohnstückkosten sowie Löhne selbst müssten gesenkt und das Bildungssystem reformiert werden, Bürokratie und Korruption gehören stärker bekämpft.

derStandard.at: Griechenlands Regierungschef Loukas Papademos ist demnach auf Kurs mit seiner Reformlinie?

Frangulidis: Wie man an Griechenland gut sieht, haben politische Parteien die allergrößte Mühe, Reformen umzusetzen. Die Lösung des Problems liegt also eigentlich bei den Griechen selbst, in der Bereitschaft der Bevölkerung.

derStandard.at: Die antwortet regelmäßig mit Streiks, scheint damit aber auch nicht viel zu erreichen.

Frangulidis: In den letzten 20, 25 Jahren wurde - historisch gesehen - sehr wenig gestreikt in Griechenland. In den 1990er Jahren reichten Streikdrohungen aus, um Forderungen bei den populistischen Regierungen durchzusetzen. Daraus entwickelte sich eine Mentalität mit den Folgen, die wir heute sehen. In vielen Bereichen betreiben Interessenvertretungen und Politiker einen Kuhhandel. So steckt Griechenland seit April 2010 in einem Restrukturierungsprogramm. Bis auf die Reform des Sozialversicherungswesens wurde kaum etwas umgesetzt.

derStandard.at: Woran krankt das System Griechenlands?

Frangulidis: Dem Land fehlt es akut an Wettbewerb. Mehr als 160 Berufsgruppen sind geschützt. Die beste Ausbildung nützt nichts, wenn man keine Lizenz hat. Ein Lkw-Fahrer braucht sie genauso wie eine Apothekerin. Anderes Beispiel: Zwei Gesellschaften teilen sich den Flugbereich, es gibt klare Preisabsprachen. Destinationen, die die eine anfliegt, sind für die andere tabu. Fliege ich heute von Thessaloniki nach Zürich, zahle ich weniger als für den Flug von Thessaloniki nach Athen. In anderen Bereichen sieht es ähnlich aus. Ich frage mich, warum man für einen Liter Milch in Griechenland an die zwei Euro zahlt. Warum kostet ein Möbeltransport zwischen Thessaloniki und Athen bis zu 30 Prozent mehr als der Transport von Thessaloniki nach Düsseldorf? Interessengruppen wehren sich gegen Reformen, um ihre Beinahe-Monopolstellungen aufrechtzuerhalten.

derStandard.at: Griechenland soll die Hälfte der Schulden erlassen werden. Reicht das?

Frangulidis: Selbst wenn die gesamten Schulden Griechenlands von heute auf morgen verschwinden würden, reichte das bei weitem nicht. Das Land würde weiterhin auf einem hohen Haushalts- und - was noch wesentlicher ist - einem hohen Leistungsbilanzdefizit sitzen bleiben. Diese Defizite müssen finanziert werden, ein Leistungsbilanzdefizit durch das Ausland. Doch das Ausland hat jegliches Vertrauen in den griechischen Staat, schlimmer noch, in die griechischen Privatinvestoren verloren.

derStandard.at: Wie ist Griechenland zu retten?

Frangulidis: Der Privatsektor wird Korrekturen bzw. Verluste von bis zu 70 Prozent hinnehmen müssen. Die Griechen müssen ihr doppeltes Defizit (Haushalt und Leistungsbilanz, Anm.) mit den erwähnten Maßnahmen auf mittlere bis lange Sicht markant reduzieren. Bis dahin braucht Griechenland weiterhin die Hilfe der Troika und der EU-Partner. Im April finden höchstwahrscheinlich Parlamentswahlen statt - die neue Regierung wird ein Neuanfang sein, sofern die Griechen Bereitschaft zur Veränderung zeigen. Schweden machte es in den 1990er Jahren vor: Das Land litt unter hoher Staatsverschuldung, einem maroden Bankensystem, hoher Inflation und einem Sozialversicherungssystem, das unfinanzierbar war. Schweden reagierte, indem es seine Volkswirtschaft reformierte und liberalisierte. Die unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessengruppen, die Sozialdemokraten und die Christdemokraten, haben an einem Strang gezogen. Man sollte also die Hoffnung für Griechenland nicht aufgeben.

derStandard.at: Sie denken nicht, dass Griechenland pleitegehen wird?

Frangulidis: De facto ist Griechenland bereits bankrottgegangen, weil das Land seinen Verpflichtungen gegenüber dem privaten Sektor nicht nachgekommen ist. Die Frage nach der Pleite ist eine technische. Die Verhandlungen sind formell abgeschlossen, somit wird Griechenland nicht pleitegehen. Offiziell sind die Verhandlungen nur deshalb nicht abgeschlossen, weil die Partner in der Troika darauf warten, dass Griechenland endlich "liefert" - zumindest Teile der angekündigten Sparmaßnahmen und Reformen. Es geht nicht darum, ob man das Land juristisch als Default bezeichnet, sondern inwieweit Griechenland die Kraft findet, aus dieser schwierigen Lage wieder herauszukommen. Das geht nur, wenn man bereit ist, verkrustete Strukturen aufzubrechen - ökonomische wie soziale. (ch, derStandard.at, 1.2.2012)