"Volle Transparenz" herrsche bezüglich des Gesundheitszustandes der inhaftierten Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko, ausländische Ärzte könnten hinzugezogen werden, sagt Pawlo Klimkin.

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Das von Brüssel vorerst nicht unterzeichnete Assoziierungsabkommen könnte in der Ukraine einen Reformschub auslösen, meint Vizeaußenminister Pawlo Klimkin im Gespräch mit Josef Kirchengast.

Standard: Die inhaftierte Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko befindet sich nach Angaben ihrer Tochter in Lebensgefahr. Was sagen Sie dazu?

Klimkin: Eine spezielle Kommission unter Vorsitz des Ersten Stellvertretenden Gesundheitsministers betreut Frau Timoschenko medizinisch und überwacht ihren Gesundheitszustand. Um Objektivität und Transparenz zu betonen, können medizinische und andere Spezialisten von außen einbezogen werden. Meines Wissens könnten Ärzte aus Kanada und Deutschland im Rahmen dieser Kommission sicherstellen, dass Frau Timoschenkos Gesundheitszustand keinen Grund zur Sorge gibt. Es herrscht also volle Transparenz.

Standard: Der Prozess gegen Timoschenko wurde inner- und außerhalb der Ukraine scharf kritisiert – als politisch motiviert mit dem Ziel, die Oppositionsführerin für lange Jahre vom politischen Leben fernzuhalten. Die EU hat deshalb das bereits ausverhandelte Assoziierungsabkommen mit der Ukraine auf Eis gelegt. War es das wert, aus der Sicht Ihrer Regierung?

Klimkin: Man muss zwischen politischen Entscheidungen und solchen unterscheiden, die, sagen wir, im Rahmen strafrechtlicher Verantwortung getroffen werden. Obwohl ich als Staatsbediensteter eine Gerichtsentscheidung nicht kommentieren kann: Im Verfahren gegen Frau Timoschenko ging es nicht um eine politische Entscheidung. Sie wurde schuldig befunden, als Premierministerin Regierungsanweisungen missachtet zu haben, indem sie den ominösen Gasliefervertrag mit Russland vom Jänner 2009 unbefugt genehmigte. (Nach Ansicht der derzeitigen Führung in Kiew schadete dieser Vertrag der Ukraine finanziell massiv, Anm.) Gemäß der ukrainischen Verfassung darf der Regierungschef oder ein Minister nicht allein Entscheidungen treffen, sondern nur aufgrund eines gemeinsamen Kabinettsbeschlusses.

Standard: Kritik gab es auch grundsätzlich am ukrainischen Justizsystem.

Klimkin: Unser Justizsystem ist nicht perfekt, deshalb gibt es bedeutende Reformbemühungen.

Standard: Zum Verhältnis mit der EU: Wie soll es weitergehen?

Klimkin: Nach vierjährigen Verhandlungen ist der Text des Assoziierungsabkommens fertig. Beim EU-Ukraine-Gipfel im Dezember wurde die Paraphierung in naher Zukunft vereinbart. Das ist kein leichtes Unterfangen, denn es handelt sich um die ambitionierteste Vereinbarung, die jemals zwischen der EU und der Ukraine geschlossen wurde. Sie umfasst praktisch alle Bereiche. Wir stehen in einem aktiven Dialog mit der EU-Kommission. Und wir hoffen, dass das Abkommen nach der Unterzeichnung als Rahmen für jede Art von Reformen in der Ukraine dient. Zugleich geht es um die künftige politische und wirtschaftliche Integration und ein Bekenntnis zur Freiheit.

Standard: Die EU hat allerdings klargestellt, dass sie das Abkommen nicht unterzeichnet, solange es nicht deutliche Fortschritte in der Reform des Justizsystems und generell bei der Umsetzung europäischer Standards gibt. War man in Kiew von der Entschlossenheit Brüssels überrascht?

Klimkin: Eine direkte Verknüpfung, wie Sie sie erwähnen, gibt es nicht. Ich habe selbst auf ukrainischer Seite die gemeinsame Gipfelerklärung ausverhandelt. Es ist eine sehr ambitionierte Erklärung, in der es etwa heißt, dass die Ukraine ein europäisches Land mit europäischer Identität ist, das die EU-Werte teilt. Zugleich heißt es, ohne direkte Verknüpfung, dass wir weitere Fortschritte, etwa im Bereich Rechtsstaatlichkeit, brauchen.

Standard: Inner- und außerhalb der Ukraine wird kritisiert, dass seit dem Amtsantritt von Präsident Wiktor Janukowitsch vor zwei Jahren eine Tendenz zu autoritärer Herrschaft, Kontrolle der Medien und Behinderung der Opposition zu verzeichnen sei.

Klimkin: Fakten zeigen Fortschritte auf vielen Gebieten. Im jüngsten Bericht von "Reporter ohne Grenzen" wird die Ukraine im Bereich Medienfreiheit ganz beträchtlich hinaufgestuft. Natürlich ist die Grundstruktur der ukrainischen Medien nicht perfekt, etwa was die Besitzverhältnisse betrifft. Aber wenn Sie in die Ukraine kommen, werden Sie feststellen: Es gibt Medienfreiheit. Das zeigen die vielen Zeitungen, Talkshows und die Aktivitäten im Internet, wo die Regierung oft kritisiert wird.

Standard: Warum wurde dann der Feiertag für die Orange Revolution abgeschafft?

Klimkin: Dieser Feiertag ist mittels eines Präsidentenerlasses durch einen anderen ersetzt worden. (Statt des "Tages des Freiheit", der am 22. November gefeiert wurde, wird nun der "Tag der Einheit und Freiheit der Ukraine" am 22. Jänner begangen, Anm.) Der Punkt war, dass die ukrainische Gesellschaft nicht spaltende, sondern einigende Themen braucht.

Standard: Meinungs- und Medienfreiheit gelten als Haupterrungenschaften der Orangen Revolution. Kann da die Abschaffung des Feiertags nicht als gegenteiliges Signal verstanden werden?

Klimkin: Ganz und gar nicht. Der "point of no return" in diesem Sinn liegt schon Jahre zurück. Es gibt in der ukrainischen Gesellschaft keine Tendenz hin zu einer autoritären Einstellung. Es ist meine persönliche Meinung, aber es ist sehr wichtig für mich: Redefreiheit ist ein Schlüssel der ukrainischen Mentalität, die damit auch eine europäische Mentalität ist.(DER STANDARD Printausgabe, 1.2.2012)